Martin Auer

Danksagung anlässlich der Verleihung des
Österreichischen Förderpreises für Kinder- und Jugendliteratur
am 14. November 1996

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Herr Ministerialrat Schneck, liebe Jury, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Jochen Gelberg, liebe Ingrid Weixelbaumer, liebe Mama, lieber Papa, liebe Christina, alle, die gekommen sind:

danke schön!

Danke schön, für diesen schönen Preis, für das Geld und für die Ehre und das Lob. Kann ich alles gut brauchen. Das Geld, weil ja nur ganz wenige Kinderbuchautoren reich werden, die Ehre und das Lob, weil bei einem Künstler ja nicht nur das Bankkonto oft überzogen ist, sondern auch das Konto, wo das Selbstvertrauen liegt. So eine gelegentliche Nachzahlung in Form eines öffentlichen Schulterklopfens tut da schon gut. Das ist wahrhaftig sehr förderlich. Danke dir, lieber Jochen, für deine freundlichen Worte. Danke auch, daß du mich von Anfang an gefördert hast. Und besonders dafür, daß du dich getraut hast, Bücher herauszubringen, von denen du gewußt oder vermutet hast, daß sie kommerziell ein Flop werden. Und da muß ich gleich auch der Ingrid Weichselbaumer danken, die sich auch wiederum getraut hat, einige Bücher herauszubringen, von denen zu vermuten war, daß sie sich auf dem Markt schwer tun würden. (Das klingt jetzt so, als ob ich nur Flops produziert hätte, aber für die Bücher, die dem Verlag Geld einbringen, kann sich ja der Verlag bei mir bedanken.) Und da muß ich mich jetzt auch noch beim Verlag Kerle und bei der Lektorin Ulrieke Ruwisch bedanken, die mir ein langgehegtes Projekt ermöglicht haben, das Buch "Küss' die Hand, gute Nacht, die liebe Mutter soll gut schlafen!", ein Buch über die Jugend meiner Mutter.

Als Kinderbuchautor ist man ja nicht nur Künstler, man ist Teil des ganzen Erziehungswesens. Man wird eingespannt für die sogenannte "Leseförderung", für die allgemeine Kreativitätsförderung, hält Lesungen, Schreibwerkstätten und so weiter. Und das ist gut so. Davon müßte es noch viel mehr geben. Ich hab mir gedacht, wenn Sie mich schon so ehren und fördern, dann bin ich Ihnen auch ein bißchen Rechenschaft schuldig. Rechenschaft über die Ziele, die der Moralist - als den mich Jochen Gelberg bezeichnet hat - verfolgt, über die Wertvorstellungen, die dieser Moralist als Teil dieses Erziehungswesens zu vermitteln sucht. Und dieser Moralist ist da ziemlich radikal.

Ich will bei meiner Darlegung nicht bei den alten Römern anfangen. Sondern etwas früher. Tatsächlich meine ich, daß wir schleunigst einige Grundsätze loswerden müssen, die so alt sind wie die Zivilisation. Diese Grundsätze betreffen vor allem die Arbeit und den Fortschritt. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", heißt es beispielsweise. Warum eigentlich? Alle sollen essen. Sonst werden bald nur mehr die Maschinen zu essen kriegen.

Die ganze Epoche der Zivilisation hat damit begonnen, daß die Menschen es geschafft haben, mehr zu produzieren, als sie aufgegessen haben. Das war vor 10.000 Jahren, mit der Erfindung der Landwirtschaft. Diesen Überschuß konnten sie verwenden, um Führungskräfte zu ernähren, die sich, sagen wir mal, neue Bewässerungssysteme ausgedacht haben, und um Arbeitsarmeen zu ernähren, die die Bewässerungsgräben dann ausgebuddelt haben. Das hat dann die Produktivität gesteigert, so daß im nächsten Jahr noch mehr Überschuß hat produziert werden können. Seither dreht sich in der Geschichte alles um diesen Überschuß. Man kann den Übeschuß über den Tagesbedarf eines Einzelnen auf zweierlei Art erhöhen. Entweder, indem man die Produktivität der Arbeit erhöht - durch neue Erfindungen, verbesserte Techniken usw. - oder indem man den Tagesbedarf dieses Einzelnen unter das natürliche Maß senkt - durch gutes Zureden oder durch Gewalt oder durch moralische oder religiöse Vorschriften. Alle diese Methoden sind in verschiedensten Kombinationen immer wieder angewandt worden.

Und wenn sich die Pro-Kopf-Rate des Überschusses nicht weiter erhöhen läßt, dann kann man immer noch die Gesamtsumme an Überschuß erhöhen, indem man die Anzahl der Köpfe vergrößert, denen man Überschuß abknöpfen kann: indem man also das Reich vergrößert und den Überschuß des ganzen Reiches an einem Ort, in der Hauptstadt, am Hof des Herrschers, konzentriert. Daher ist die Geschichte der Zivilisation eine Geschichte der Kriege. Wer über mehr Überschuß verfügt, kann sich eine größere Armee leisten, und wer die größere Armee hat, kann sich noch mehr Überschuß aneignen.

Die überlegene Kultur, die Kultur, die sich durchgesetzt hat, war jeweils die, die es besser verstanden hat, den Überschuß zu erhöhen und zu konzentrieren. Zeitweilig konnten sich Kulturen behaupten, die den Überschuß nur auf gewaltsame Weise erhöhten. Auf Dauer waren es die Kulturen mit der höheren Produktivität der Arbeit, die sich durchgesetzt haben. Aber entscheidend für den Erfolg einer Kultur war und ist bis heute, daß sie möglichst viel Überschuß produziert, der in den Fortschritt investiert werden kann, und dieser Fortschritt heißt: einen noch höheren Überschuß zu produzieren.

Nicht entscheidend für den Erfolg einer Kultur war, ob sie den Menschen ein friedliches und zufriedenes Leben ermöglicht hat. Kulturen, in denen die Menschen das meiste von dem, was sie produzieren, gleich wieder verbrauchen, Kulturen, wo die Menschen ihre überschüssige Arbeitskraft verwenden, um ihre Häuser und sich zu schmücken, anstatt hochqualifizierte Architekten und Goldschmiede in der fernen Hauptstadt zu finanzieren, wo die Menschen lieber selber tanzen, anstatt ein königliches Ballett zu unterhalten, die sich Geschichten erzählen, anstatt für den Unterhalt von ein paar Philosophen zu sorgen, solche Kulturen stagnieren. Bei denen geht der Fortschritt nur ganz langsam vor sich. Die - sagen wir mal, Zuñi-Indianer - hätten, um das zu erreichen, was wir erreicht haben, nicht 10.000 Jahre gebraucht, sondern vielleicht 50.000, man stelle sich das vor!

Das Investieren des Überschusses in die Produktion von mehr Überschuß ermöglichte das exponentielle Anwachsen der menschlichen Bevölkerung auf der Erde und die unglaubliche Verwandlung der Erdoberfläche in nur 10.000 Jahren. Das Investieren des Überschusses in die Produktion von noch mehr Überschuß hat uns in dieser unglaublich kurzen Zeit von 10.000 Jahren an den Punkt gebracht, wo es offensichtlich so nicht mehr weitergeht.

Ökologisch geht's nicht mehr weiter. Das hat sich ja schon ein bißchen herumgesprochen, daß der Planet nicht viel mehr derartige menschliche Aktivitäten verträgt. Und kulturell kann es so auch nicht mehr weitergehen. Denn wenn die Produktivität der menschlichen Arbeit so weit gesteigert ist, daß die ganze Arbeit von Maschinen gemacht wird und der Mensch dafür überflüssig ist, dann wird es für den Menschen Zeit, sich zu überlegen, was er den jetzt anfangen soll. In Pension gehen? Jedenfalls kann es das Ziel des Menschenwesens nicht mehr sein, dem Fortschritt zu dienen. Wenn die Produktivität der Arbeit soweit gesteigert ist, daß der Mensch aus der Produktion der Güter verschwindet, dann ist der Fortschritt ans Ziel gelangt. Die Epoche der Zivilisation geht dann dem Ende zu - so oder so.

Mit diesen Fragen, meine ich, muß sich ein neuzeitliches Erziehungswesen auseinandersetzen. Nicht damit, wie wir bei unseren Schülern und Studenten "Europareife" erzielen. Nicht damit, wie wir der "globalen Herausforderung" entegentreten. "Europareife", das heißt nur mehr Steigerung der Produktivität um der Steigerung der Produktivität willen. Die "globale Herausforderung" bedeutet noch mehr Konkurrenz, noch mehr Konzentration, noch mehr, schneller, besser - Dinge erzeugen.

Wir erleben gegenwärtig wieder einen gigantischen Schub der Produktivitätssteigerung. Menschen werden überflüssig, ihre Arbeit wird von den Maschinen übernommen, den Automaten, Computern, Robotern. Was heißt, Menschen werden überflüssig? Sie werden nicht mehr benötigt, um Dinge zu erzeugen. (Die Auslagerung in Billiglohnländer ist nur ein Aspekt dieses Prozesses). Warum können diese Menschen, von der Fron der Arbeit befreit, sich nicht schöneren Dingen zuwenden? Sind wir nicht alle froh, daß wir die Wäsche nicht mehr mit der Hand rubbeln müssen, sondern eine Waschmaschine haben? So können wir öfter ins Kino gehen. Sollte das nicht gesamtgesellschaftlich auch möglich sein? Wenn immer weniger Menschen ausreichen, um immer mehr Waschmaschinen zu erzeugen, sollten dann nicht genug Waschmaschinen da sein, um sie auch denen zu geben, die nicht gebraucht werden, um Dinge zu machen? Wenn immer weniger Menschen gebraucht werden, um die Dinge zu erzeugen, sollten da nicht die Übrigen das machen, was Maschinen nicht machen können? Einander pflegen, unterhalten, heilen, unterrichten? Nachts bei ihren Patienten im Spital anwesend sein, beispielsweise? Wenn immer weniger Metallarbeiter gebraucht werden, müßte es da nicht möglich sein, mehr Lehrer und Lehrerinnen zu haben? Weniger SchülerInnen in größeren und schöneren Klassen? Mehr Theater und Konzertsäle, mehr MusikerInnen, MalerInnen, SchauspielerInnen. ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, AltenpflegerInnen? Besser ausgestattete Universitäten?

Aber dazu müßte man etwas von dem Überschuß abschöpfen, in Form von Steuern oder meinetwegen auch in Form von Staatsschulden. Und das würde unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit schaden, denn das könnte dann nicht in Produktivitätssteigerung investiert werden. Das können wir uns nicht leisten. Denn dann wird der Wirtschaftsstandort Österreich unattraktiv, Kapitalflucht setzt ein, noch mehr Arbeitsplätze gehen verloren usw. Und warum? Ja, weil die Konkurrenten auf dem Weltmarkt leider auch wie wild in den Fortschritt investieren und nicht in die Lebensqualität. In diesem Wettlauf müssen wir mithalten, dafür müssen wir Europa rüsten. (Jawohl, rüsten!)

Meine Damen und Herren, eine überlebensfähige Kultur im dritten Jahrtausend wird eine Kultur ohne Arbeit sein müssen. Arbeit verstanden als eine an sich unangenehme Verausgabung von Kräften, die später durch Konsum belohnt wird. Stattdessen wird das Ziel sein, eine Tätigkeit zu finden, die ihren Lohn in sich selber trägt. Die Tätigkeit, die sich der Mensch von den Maschinen nicht nehmen lassen kann, ist das Sorgen für andere Menschen. Alle die Varianten von Unterhalten und Belehren, Pflegen und Heilen. Und natürlich das Forschen. Und auch Bildung wird nicht ein Instrument sein, um Erfolg zu haben, Karriere zu machen, sich durchzusetzen, sondern ein Wert an sich, ein Reichtum, etwas, was einem hilft, das Leben zu genießen. Aber von dem Fortschritt, wie er uns 10.000 Jahre lang beherrscht hat, werden wir uns verabschieden müssen.

Eine nachzivilisatorische Kultur wird viel von den stagnierenden vorzivilisatorischen Kulturen haben müssen: z.B. stagnierende Bevölkerungszahlen. Stagnierende Gütererzeugung. Stagnierenden Ressourcenverbrauch. Daß diese Stagnataion mit geistigem Wachstum vereinbar ist, auch das zeigen uns viele vorzivilisatorische Kulturen. Die Menschen werden, solange sie Menschen sind, immer neugierig sein, forschen, verändern wollen. Und von frühester Zeit an haben die Menschen an sich selbst herumexperimentiert, sich Pflöcke durch die Nase getrieben, den Hals verlängert, die Lippen vergrößert, die Haut tätowiert. Jetzt basteln wir an unseren Genen herum. Das ist typisch menschlich. Es ist in den letzten Jahrzehnten in Verruf gekommen, zu verlangen, der Mensch solle auch seine Geschichte bewußt und aktiv gestalten. Wer an den Naturgesetzen der Marktwirtschaft rütteln will, macht sich verdächtig, Utopien gelten als überholt. Mir erscheint freilich das Streben, unsere Kultur aktiv zu erschaffen, unsere Geschichte bewußt zu gestalten, anstatt sie passieren zu lassen, jedenfalls weniger pervers, als der Versuch des Menschen, sich in der Retorte neu zu erschaffen. Und genau, um zu verhindern, daß einer oder wenige daherkommen, und anfangen, aus den anderen neue Menschen zu machen, ist es notwendig, daß alle Menschen sich selber verstehen.

Forschung, Bildung und Erziehung müssen die Menschen dazu befähigen, sich selber zu verstehen, ihre biologische und ihre kulturelle Entwicklung zu verstehen, ihre eigene Psychologie zu verstehen, ihren Zwiespalt zwischen Instinkt und Einsicht zu verstehen, zu verstehen, wie aus vielen Einzelnen eine Gesellschaft wird, zu verstehen, wie aus den Plänen und Absichten vieler Einzelner gesellschaftliche Vorgänge resultieren, die niemand geplant und beabsichtigt hat. Letztendlich dazu, ihre wahren Bedürfnisse zu erkennen. Ein Erziehungswesen der Zukunft sollte sich zum Ziel setzen, die Menschen zu befähigen, sich selbst als Menschen zu erschaffen.

Das sind so die Gedanken, die ich mir mache, das sind die Gedanken, die meine Arbeit bestimmen. Wenn ich es auf eine Kurzformel bringen sollte, dann würde ich sagen: In unserem Wertesystem muß die Kreativität an die Stelle der Produktivität treten. Ich halte das für überlebenswichtig.

Ich danke Ihnen allen.