Wien, im Juni 2004

Herr Martin Auer, ich begrüße Sie!

Mein Name ist Katharina Rozsa.

Ich studiere an der Universität Wien Pädagogik und beschäftige mich im Rahmen meiner Diplomarbeit, betreut von Univ. Prof. Dr. Friedrich Oswald, mit dem Thema ,Sprachliche Intelligenz' - wie entsteht sie, wie kann sie gefördert werden?

Als Lehrerin interessiert mich, wie ich Begabungen feststellen, Kindern Unterstützung geben und sie fördern und fordern kann, da ich, nicht zuletzt auch als Mutter, um die Tatsache Bescheid weiß, dass unser Schulsystem schwer den Interessen und Begabungen aller Kinder gerecht werden kann.

Ich danke Ihnen für das Lesen meiner Zeilen und bitte Sie um Beantwortung der nachfolgenden Fragen.

Bei Teilnahme an dieser Untersuchung - worauf ich sehr hoffe - bitte ich Sie um Ihr Einverständnis der Veröffentlichung Ihrer Gedanken in dieser Diplomarbeit.


Mit freundlichen Grüßen


 

1)  Als Autorin/Autor bewegen Sie sich vorwiegend im Medium der Sprache, beschäftigen sich mit den Formen des sprachlichen Ausdruckes in besonderer Weise. Haben Sie auch sehr persönliche Interessen auf anderen Gebieten, wenn ja, auf welchen?

Ja: Musik, Grafik, Fotografie, Webdesign, Programmieren.

2)  Können Sie sich noch erinnern, möglicherweise durch Erzählungen, in welchem Alter Sie lesen konnten?

Mit ca. 5 Jahren, also noch bevor ich in die Schule gekommen bin. Ich habe Mutter, Tante und andere Leute immer wieder gebeten mir zu zeigen, wie man ihren Namen schreibt oder dies oder das, so lange, bis ich lesen und schreiben konnte.

Welche Bücher fanden bei Ihnen besondere Interessen, was war Ihre erste Lieblingslektüre?

Pu der Bär, Grimms Märchen.

3)  War Ihre literarische Begabung bereits im Schulalter zu erkennen?

Gab es in der Schule Förderer (vielleicht eine bestimmte Lehrkraft) und Unterstützung?

Ich wollte schon als Kind Schriftsteller werden. Im Gymnasium habe ich fleißig Gedichte geschrieben, vor allem um damit Mädchen zu beeindrucken. Dem einen oder anderen dieser Gedichte hätte man schon eine gewisse Begabung ansehen können, andere waren grauenhaft schlecht. Meine Lehrer haben meine Gedicht nicht zu sehen bekommen. Meine Aufsätze wurden oft schlecht benotet, weil sie der Anschauung des lehrers widersprachen. Eine Förderung meiner schiftstellerischen Begabung durch die Schule hat es sicher nicht gegeben. Weder in der Volksschule noch im Gymnasium.

4) Welche Personen aus dem Umfeld (Familie, Bekannten- oder Freundeskreis) wirkten für Sie besonders anregend und im weiteren Sinn ,begabend'?

Ich komme aus einer Familie, in der Geschriebenes immer schon eine Rolle gespielt hat. Mein Vater ist Journalist, meine Mutter hat eine Schauspielausbildung und war immer literatur- und vor allem theaterbegeistert.

5) Von welchem Ihrer Werke können Sie sagen, dass damit der ,Durchbruch' eingetreten ist und nach wie vielen Jahren schriftstellerischer Tätigkeit war das?

Mit meinem ersten Kinderbuch "Was niemand wissen kann", das ich mit ca. 34 Jahren geschrieben habe. Vorher habe ich Gedichte, Lieder und einige Kurzgeschichten geschrieben.

6) Waren Sie als Kind anders als Altersgleiche?

Wenn ja, wer hat Sie in diesem , Anderssein' unterstützt, Ihnen den Rücken gestärkt?

Ich hatte das Gefühl, anders zu sein als die anderen, aber ich denke, dass viele oder vielleicht alle Kinder dieses Gefühl haben, zumindest gelegentlich. Als ich viereinhalb Jahre alt war, ist meine Familie vom 1. Bezirk in einen Gemeindebau im 16. Bezirk übersiedelt. Bis dahin hatte ich nur Schriftdeutsch gesprochen. Im Gemeindebau musste ich erst Wienerisch lernen. Für die Ottakringer Kinder war ich ein Exot. Unterstützt hat mich in gewisser Weise der Rückhalt in meiner Familie.

7) Wie lautet Ihr Vorschlag zur sprachlichen Förderung von Kindern ?

Es ist bekannt, dass die Grundlagen für sprachliche Intelligenz in der Familie gelegt werden. Von Anfang an muss man sich mit den Kindern beschäftigen, mit ihnen reden, singen, spielen, Spaß haben. Natürlich nicht zwanghaft, nicht mit dem steten Blick darauf, das Kind um jeden Preis zu fördern, sondern spielerisch, aus Freude am Umgang mit dem Kind.  

Die Schule muss davon ausgehen, dass es ein natürliches Bedürfnis der Kinder ist, zu lernen. Lernen ist Forschen, Experimentieren, Ausprobieren, Versuch, Scheitern, neuer Versuch, Erfolg. Forschen erfordert nicht nur die Tätigkeit des Gehirns, sondern die Tätigkeit aller Sinne und Organe. Lernen ist Tätigkeit, nicht Stillsitzen und Zuhören. Die Schule, die noch immer als erstes Unterrichtsfach Stillsitzen hat, entspricht zwar den Anforderungen der Gesellschaft, aber nicht den natürlichen Bedürfnissen der Kinder.

Sprache ist Bewegung.
Bewegung nicht nur der Hirns, der Lippen und der Zunge. Niemand kann sprechen, ohne gleichzeitig zu gestikulieren. Nach der Auffassung mancher Anthropologen war Sprache zuerst Gestensprache, begleitet von Lauten, bis später die Laute in den Vordergrund getreten sind. Bei feinmotorischen Bewegungen wie dem Nähen oder dem Schreiben arbeitet immer die Zunge mit, besonders bei Kindern, und umgekehrt arbeitet beim Sprechen der Körper mit der Zunge mit. Kleinkinder erlernen die Sprache mit Finger- und Bewegungsspielen, Das ist der Daumen, Hoppe-hoppe Reiter usw. Reime und Sprüche setzen sich unauslöschlich im Kopf fest: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Auch die späteren Laufspiele sind mit Reimen und Versen verbunden: Vater, Vater leih mir d' Scher, wo ist's leer?Vorder meiner, hinter meiner, links, rechts gilt's nicht, ich schaue!
Mit Begeisterung lernen Kinder seit Generationen eins vom anderen Kettengedichte: Es war einmal ein Mann, der hatte einen Schwamm... Je länger, um so besser.  Niemand zwingt sie zum Auswendiglernen. Und in jeder Stadt kennt man andere Versionen dieses Gedichts, weil vergessenene Zeilen einfach durch eigene Erfindungen ersetzt werden. Klatsch-Spiele werden von Nonsens-Versen begleitet: Ampam bidi-widi widi-widi wutschka, ampam pi, ampam pa...

Sprache besteht nicht nur aus Vokalen und Konsonanten. Melodie und Rhythmus vermitteln nicht nur im Lied, sondern auch in der gesprochenen Sprache erst den vollen Sinn.  Singen, rhythmisches Sprechen, Tanzen, Bewegungsspiele – das gehört zum Spracherwerb unbedingt dazu.

Lesen als Geschenk.
Ich habe einmal erlebt, wie sich eine Klasse lernbehinderter Kinder, behindert zum Teil durch Legasthenie, durch nichtdeutsche Muttersprache oder andere Probleme, mit Begeisterung auf die Regale einer Leihbibliothek gestürzt hat, und wie diese Kinder sich mühsam die jeweiligen Texte zusammenbuchstabiert haben, ohne dabei an Begeisterung zu verlieren. Das Schlüsselerlebnis dieser Kinder war: Hier muss man nicht zahlen, hier darf man die Bücher umsonst ansehen - Ein Geschenk, ein geistiges Schlaraffenland!
Solche Geschenke sollten die Lehrenden den Kindern immer wieder machen: Die Vorlesestunde zum Ausklang des Schultags oder der Schulwoche. Eine Lehrerin hat mir erzählt, dass sie dazu immer eine Kerze anzündet, um diese Stunde herauszuheben.
Die Kinder dürfen ihr Lieblingsbuch vorstellen.
Die Lesenacht in der Schule oder in der Bibliothek.
Die Autorenlesung.

Lesen als praktische Informationsbeschaffung.
Wir planen einen Klassenausflug. Wir studieren den Wanderführer und die Landkarte und den Eisenbahnfahrplan. Und mit Fahrzeiten, Gehzeiten, Fahrtkosten etc. können wir auch unsere Rechenkenntnisse praktisch anwenden.
Wir bekommen ein neues Gerät in die Klasse. Wir studieren die Gebrauchsanweisung.
Ein Kind kommt plötzlich mit einer Frage daher. Wir suchen die Antwort im Internet.
Wir bereiten das Weihnachtsfest vor. Und studieren Backrezepte. Und wenn wir die Mengen von vier Personen auf 20 umrechnen, wenden wir auch das Multiplizieren an.
Wir können Spielregeln für neue Spiele studieren und die Spiele dann auch wirklich spielen.

Schreiben als Mitteilung.
Zwölf Jahre lang habe ich irgenwelche Sachen in meine Aufsatzhefte geschrieben. Zur Übung. Niemand hat das gelesen außer der Lehrperson. Und die hat das auch nicht als Mitteilung verstanden, sondern nur rote Striche hineingemacht und eine Note darunter geschrieben. Was kann frustrierender sein? Schreiben hat zwei Funktionen: Mitteilung an andere, Gedächtnisstütze oder Wissensspeicher für mich selbst. In der Schule wird hauptsächlich die zweite Funktion gepflegt. Die Mitteilungsfunktion wird nur geübt, aber kaum jemals real angewandt.
Briefe an wirkliche Personen schreiben. Und abschicken! Und auf Antwort warten.
Liebesbriefe!
Wandzeitungen.
Schülerzeitungen.
Schreibwerkstätten, die in einer Veröffentlichung münden: Broschüre, Dichterlesung, Aufführung beim Schulfest, Radiosendung, Web-Seite.