Martin Auer
Rotenmühlgasse 44/30
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Stephanie A. Benecke
 

25. September 1993
 

Liebe Stephanie Benecke,

vielen Dank für Ihren Brief und die interessanten Fragen. Ich stecke gerade ziemlich im Streß - in zwei Tagen hat ein Stück, bei dem ich Regie führe, Premiere - also muß ich mich leider ein bißchen kürzer fassen. Hier gleich meine Antworten:

1. Ja, ich war als Kind schon so von Büchern fasziniert, daß ich mir vornahm, selber auch einmal Bücher zu schreiben. Meine Mutter hat uns Kindern immer viel vorgelesen, sie selber hat auch viel gelesen, und das hat uns natürlich sehr beeinflußt. Es war vielleicht so, daß ich mich als Kind sogar zusehr für Bücher interessiert habe. Ich war sehr enttäuscht, als ich entdeckte, daß die wirkliche Welt nicht so spannend, so reich an bedeutenden Erlebnissen ist, wie sie in den Büchern geschildert wird. Viele Bücher schildern auch einfach eine falsche Welt, lassen die häßlichen Seiten des Lebens aus, schummeln sich um Probleme herum und so weiter. Das gilt für Bücher genauso wie für Filme oder Fernsehsendungen. Herauszufinden, daß man sich auf die Bücher nicht einfach verlassen kann, daß man selber herausfinden muß, wie die Welt wirklich ist, selber entscheiden muß, wem man glauben darf und wem nicht, war für mich ziemlich schmerzhaft. Trotzdem bin ich ein Büchermensch geblieben. Denn trotz der großartigen Möglichkeiten, die Film und Fernsehen, Schallplatten, Fotos und Computer bieten, sind es noch immer in erster Linie die Bücher, die uns ermöglichen, mit den Gedanken von Menschen an anderen Orten und zu anderen Zeiten in Kontakt zu treten.

2. Ja, sicher gab es Vorbilder, die mich beeinflußt haben.

3. Welche und Warum? Da muß ich mich sehr kurz fassen. Als Kind waren meine Lieblingsbücher zum Beispiel "Pu, der Bär" von A. A. Milne - ich selbst habe mir mit meinen Stofftieren eine ähnliche Traumwelt wie Christopher Robin geschaffen - , die Bücher von Astrid Lindgren - die rebellische Pippi Langstrumpf hätte ich gerne zur Freundin gehabt - , von Tove Jansson - ich wäre gern ein Träumer und Abenteurer wie Mumin gewesen, mit einer so verständnisvollen Familie wie der seinen als Rückhalt -, später die Indianerbücher von Lieselotte Welskopf-Henrich.
Auch die surreale Welt von Christian Morgensterns "Galgenliedern" hat mich sehr beeindruckt. Ich habe auch viele klassische Theaterstücke gelesen, Grillparzer und Shakespeare etwa, und auch die wiener Volksstücke von Johann Nestroy.
Als Jugendlicher war Bertolt Brecht für mich ungeheuer wichtig und auch Bob Dylan. Abenteurer und Rebellen wie Jack London und Jack Kerouac haben mich beeindruckt.
Ich habe Karl Marx und Siegmund Freud studiert. Ich wollte als Revolutionär die Welt verändern.
Heute sind es wohl die philosophischen Werke von Erich Fromm und das pädagogische Werk von Bruno Bettelheim, die mein Denken stark beeinflussen.

4. Nach dem Abitur (bei uns heißt das Matura) wollte ich zwar studieren, bin aber sehr bald beim Theater gelandet. Ich war da als Dramaturg, Schauspieler und Musiker beschäftigt. (Ein Dramaturg liest Stücke, macht Vorschläge für den Spielplan, beschafft Materialien, die für die Interpretation des Stückes wichtig sind und so weiter). Als ich mit dem Theater aufhörte, mußte ich Geld verdienen, also nahm ich verschiedene Jobs an, unter anderem auch als Journalist und in der Werbung. Doch hat mir das nie wirklich Spaß gemacht. Als Journalist bekam ich nie Gelegenheit, über das zu schreiben, was mich interessiert, und in der Werbung muß man hauptsächlich lügen, und das liegt mir eigentlich nicht sonderlich. Meine künstlerische Arbeit habe ich damals ganz in den Dienst einer politischen Splittergruppe gestellt. Als ich ungefähr dreißig war, brach meine ganze damalige Weltanschauung zusammen, ich konnte an vieles nicht mehr glauben, was mir früher als unbedingte Wahrheit erschienenen war. Also mußte ich künstlerisch ganz von vorne anfangen. Damals habe ich die Zauberkunst entdeckt und mir damit die Zeit vertrieben. Erst nach einigen Jahren war ich wieder soweit, daß ich ungefähr wußte, was ich schreiben wollte. Das hat mir dann den Mut gegeben, alle Jobs hinzuschmeißen und zu versuchen, wieder als Musiker und Schriftsteller durchzukommen.

5. Als ich mein erstes Kinderbuch schrieb, war meine Tochter schon zwölf Jahre alt. Sie ist jetzt zwanzig und liest immer alle meine Bücher, aber es natürlich nicht so, daß ich für sie schreibe. Es tauchen aber immer wieder ihre Gedanken und Eigenheiten, auch Erlebnisse, die wir zusammen hatten, in meinen Büchern auf.

6. Die Bücher, die ich für Kinder schreibe, werden von großen Verlagen herausgebracht und von vielen Leuten gelesen. das freut mich und gibt mir den Elan, weiterzuschreiben. Die Bücher, die ich für Erwachsene schreibe, bringe ich selber heraus und nur wenige Leute kennen sie. Das ist natürlich oft frustrierend. Für Kinder oder für Erwachsene zu schreiben, das sind nicht wirklich zwei Paar Schuhe. Man muß sich da gleich anstrengen. Ich nehme mir vor, daß das, was ich für Kinder schreibe, auch für Erwachsene unterhaltsam, interessant und wichtig sein soll, und es gibt auch viele Erwachsene, die meine Kinderbücher mit großem Vergnügen lesen. Etwas zu schreiben, was für Erwachsene viel zu doof ist, und das dann Kindern vorzusetzen, halte ich für eine Frechheit. Aber es ist natürlich so, daß Erwachsene schon vieles wissen (oder wissen sollten) was Kinder eben erst erfahren und lernen müssen. Wenn man für Erwachsene schreibt, geht man von anderen Voraussetzungen aus und man kann nicht erwarten, daß Kinder das auch interessant finden oder verstehen sollen. Allerdings: Für mich waren als Kind die Bücher am interessantesten, von denen meine Mutter mir sagte, daß ich noch zu klein sei dafür.

7. Mir scheint, daß Kinder kritischer sind als Erwachsene. Ich merke das vor allem bei Lesungen. Wenn Kinder etwas langweilig finden, dann drehen sie sich um und beschäftigen sich mit etwas anderem, oder sie lachen einen einfach aus (Zum Glück passiert mir das fast nie). Erwachsene würden höflich sitzen bleiben und alles über sich ergehen lassen. Kinder nehmen das, was man ihnen vorführt oder erzählt noch ernst, und sie sind gekränkt, wenn man ihnen etwas Schlechtes vorsetzt. Erwachsene zucken dann halt die Achseln. Erwachsene zerpflücken und zergliedern natürlich oft das, was sie gelesen oder gesehen haben und sprechen darüber, welche Details ihnen zusagen und welche nicht. Das tun Kinder weniger.

8. Leider kann ich nicht jonglieren. Ich würde es gerne können, aber ich fürchte, ich bin zu ungeschickt. Ich habe versucht, es zu lernen, aber ich schaffe es nur mit leichten Seidentüchern, die nicht so schnell hinunterfallen.

Liebe Stephanie, ich hoffe, daß Sie mit meinen Antworten etwas anfangen können. Sie können meinen Brief einfach so abdrucken oder Ihren eigenen Artikel daraus machen, ganz wie es Ihnen besser erscheint. Ich freue mich schon auf die Bad Aiblinger Literaturtage, und vielleicht sehen wir uns ja dann.

Alles Liebe
 

Martin Auer