Lesung im Weinviertel, eine von vielen

(Der österr. Bibliotheksverband, der diese Lesereise organisierte, bat mich um einen Bericht)

5. März 2002. Die A23 ist voll, aber zum Glück nicht verstopft, ich komme ganz gut weiter. Oberweiden ist irgendwo hinter Gänserndorf, laut Routenplaner sollte ich genau eine Stunde und eine Minute brauchen. Der Frühlingstag ist strahlend blau und kalt. Ich wechsle die Sender, immer wenn putzmuntere Moderatoren spritzige Witze machen, schalte ich um: Krone Hitradio – 88,6 – Radio Wien. Ich mag die Witze nicht, aber die Musik. Seniorenmix. Zwischen ABBA und BeeGees kommen da schon auch einmal die Doors. Um zehn bin ich in Gänserndorf, nach Plan. Wenn die vor mir bald diesen Traktor überholen, komme ich pünktlich an. Volle Information zur vollen Stunde: Al Quaida bringen Hubschrauber zum Absturz, sieben amerikanische Soldaten getötet. Selbstmordattentat in Jerusalem. Rechtsextreme Israelis bekennen sich zu Bombenattentat auf arabische Schule. Killst du meine Kinder, kill ich deine.

Die Gemeindebücherei liegt über dem Postamt. Die zwei Bibliothekarinnen begrüßen mich. Fünf Reihen Bierzeltbänke sind aufgestellt. Ich bin pünktlich angekommen, die Kinder sind noch nicht da. Aber jetzt hört man sie schon...

„Grüß euch, ich bin der Martin...“

„Des waß i!“ Ein hübscher Junge in der ersten Reihe grinst.

„Ah so? Was wisst’s denn noch über mich?“

„Du bist der Martin Auer! Du wirst uns Geschichten vorlesen! Ja, Lieschen Radieschen!“

„Lieschen Radieschen?“

„Ja, das hat uns die Frau Lehrer vorgelesen!“

„Aber dann kennt ihr die Geschichte  ja schon!“

„Macht nix!“

„Wollt ihr lieber eine Geschichte, die ihr schon kennt, oder eine neue?“

„Eine spannende!“ verlangt ein dickes blondes Mädchen in den hinteren Reihen.

So, für meine übliche Einleitung ist es zu spät. Sonst fange ich ja immer mit „Kopfhaus“ an. Aber die Kinder haben schon die Führung übernommen. Jetzt ist keine Zeit mehr für Gedichte.

„Was ist denn eine spannende Geschichte? Wie muss die ausschauen?“

„Na so was mit Geistern!“

„Oder so grauslich, mit Spinnen!“

„Eine Verfolgung!“

So so. Die typischen spannenden Abenteuergeschichten schreibe ich ja nicht. Es muss wohl eine untypische werden.

„Wollt ihr was mit einem Teufel?“

„Ja!“

Also bringe ich erst einmal „Luzi“. Eigentlich eine besinnliche Geschichte. Gar keine Verfolgungsjagden kommen darin vor, niemand muss irgendwelche Gefahren bestehen. Aber spannend ist sie ja doch. Wird der kleine Luzi Flügel für den großen Luzifer  finden? Nein, er findet keine. Er findet eine Freundin und er entlockt seinem ernsten Vater ein Lächeln. Keine Knallpointe, gewiss nicht. Aber die Kinder spüren, was da eigentlich Großes passiert ist zwischen Vater und Sohn. Einen Moment sind alle ganz still.

„Noch eine Teufelsgeschichte?“

„Jaaaa!!!“

„Ja manchmal schreibe ich Geschichten auf Wunsch. Der Stefan Hornischer zum Beispiel, der hat sich einmal eine Geschichte gewünscht, die sollte ‚Der böse Teufel’ heißen. Zuerst hab ich mich ja gewundert, wie er das meint. Gehört es nicht sowieso zu einem Teufel, dass er bös ist? Ich hab nachgedacht, und dann hab ich ihm diese Geschichte geschrieben...“

Der böse Teufel, um den sogar die anderen Teufel einen riesigen Bogen machen, bei dem den andren Teufeln richtig schlecht wird, wenn sie nur seinen Namen hören, der nur verletzen, zerstören, kaputtmachen, zerfetzen, zerreißen, vernichten und umbringen will, ist immer eine Hetz. Die Kinder lachen und kreischen, denn die Sau rauslassen, das ist auch Kindern ein Bedürfnis. Aber: „Zum Glück – zum Glück hat der liebe Gott diesem Teufel nur Macht über zwei Quadratmeter Wüste gegeben. Es wäre sonst gar nicht auszudenken, was der mit der Welt alles angestellt hätte!“

Erleichtertes Lachen. Dieser Stefan, geht es mir durch den Kopf, während ich erzähle, muss jetzt schon ein junger Mann sein. Ist das Buch überhaupt noch lieferbar? Ein ganz unscheinbarer Bub war das. Hinterher hat mir seine Lehrerin erzählt, dass er ganz unvermittelte Wutanfälle bekommen konnte. Er hatte also wirklich einen bösen Teufel in sich, darum hat er sich diese Geschichte gewünscht.

Jetzt wird’s Zeit für ein Lied. „Wie nennt man denn eigentlich einen Typen, der sich Geschichten und Bücher und Gedichte ausdenkt?“

„Dichter!“

„Und könnt ihr euch vorstellen, dass es ein Essen gibt, das ganz besonders gut zu einem Dichter passt?“

„Palatschinken!“

„Geh, was ist denn so Dichtermäßiges an Palatschinken?“

„Buchstabensuppe!“

„Genau!

Buchstabensuppe – ich ess so gerne Buchstabensuppe,

denn man weiß nie was passiert,

wenn man in der Suppe rührt,

es kann sein, dass aus dem schwarzen Wein

ein Warzenschwein wird

in der Buchstabensuppe...“

Ich mag es nicht, wie im Bierzelt zu brüllen: „Und jetzt alle: Buchstabensuppe!“

Nein, meistens geht es ganz von selber. Ein Kopfnicken, ein Blick, und schon singen zwei drei, dann alle.

„Seid ihr manchmal auch allein zu Hause? Wer ist nicht gern allein zu Hause? Warum?“

„Weil mir fad ist.“

„Weil ich mich fürchte.“

„Weil ich niemand zum Spielen hab.“

„Und wer ist gern allein zu Hause? Was machst du, wenn du allein zu Hause bist?“

„Gameboy spielen.“

„Fernsehn schaun.“

„Dann mach ich alles, was ich nicht darf!“

„Und was machst du dann?“

„Gameboy spielen.“

„Und du?“

„Ich stell das ganze Haus auf den Kopf!“

„Ich mach eine Party.“

„Ich geh in den Hof spielen.“

„Fernsehn schaun.“

„Also die Viktoria, die war auch gern allein zu Hause... Alle waren weggegangen, nur Viktoria war allein zu Hause. ‚Wenn alle weg sind, ist die Wohnung verzaubert’ sagte Viktoria. Sie ging ins Elternschlafzimmer und hob die Bettdecke hoch. Da lag ein großer grauer Bär, der schaute sie an.“

Viktoria passt gut als Einleitung zur Maikäferfrau. „Frau Maikäfer flieg“ habe ich zuerst immer am Anfang einer Lesung gebracht. Aber am Anfang funktioniert die Geschichte nicht. Für den Schluss eignet sie sich viel besser. Und besonders nach „Viktoria“ kommt die Geschichte gut an. In der „Viktoria“ erlebt ein kleines Mädchen das Erwachsenwerden, aber nur im Kopf. Die abenteuerliche Reise durch die Wohnung endet wieder bei Papa und Mama. Und nach dieser Geschichte sind sie dann meistens aufnahmebereit für die Geschichte einer alten Dame, die auf Abenteuer loszieht.

„Welches Abenteuer würdet ihr denn gerne einmal erleben?“

„Mit Dinosaurier!“

„Geister!“

„Harry Potter!“

„Hm. Ich meine ein Abenteuer, das ihr einmal in Wirklichkeit erleben könntet.“

„Durch den Dschungel wandern!“

„Mit dem Pferd ausreiten! Ganz allein!“

„In zweiten Weltkrieg!“

Es ist ein blonder, ein bisschen dicklicher, weichlicher Bub in der ersten Reihe, der sich dieses Abenteur wünscht.

„Du wärst gern im zweiten Weltkrieg dabei?“

Stummes Kopfnicken.

„Und was würdest du da gern erleben? Dass dir eine Bombe auf den Kopf fällt?“

„Ist mir wurscht!“ sagt er trotzig.

Jetzt stimmen auch andere Buben ein.

„Mit einem Panzer herumfahren!“

„Und was machst du dann in deinem Panzer?“

„Na nix. Da fahr ich in Wald und dort schlaf ich!“

Aber ein anderer weiß es besser: „Alles z’sammschießen!“

„Was denn?“

„Den Wald. Die ganzen Viecher. Die Bäume!“

Es ist der hübsche drahtige, der am Anfang „Des waß i“ geschrien hat, der alles z’sammschießen möchte.

„Na, da muss ich euch noch eine Geschichte erzählen. Wo hab ich denn das Buch...“

Das war jetzt nicht geplant. Die Zeit ist eigentlich schon knapp. Ich wollte „Herrn Müllers seltsame Reise“ singen und dann „Frau Maikäfer flieg“ vorlesen. Dann noch ein Lied, und Schluss. Aber jetzt muss ich doch den „Blauen Jungen“ bringen. Zehn Minuten länger, das wird schon passen. Ein Lied kann ich ja weglassen.

Ich erzähle ihnen die Geschichte von dem Jungen auf dem Planeten der blauen Leute, der in einem großen Krieg seinen Vater und seine Mutter verloren hat und alle Tränen geweint hat, die er gehabt hat. Jetzt will er niemanden mehr liebhaben. Und schon gar nicht jemanden, den ein Gewehr erschießen kann. Der blonde Bub, der „in zweiten Weltkrieg“ sein will, sitzt mit verschränkten Armen da und hört mißtrauisch zu. Er weiß natürlich genau, dass die Geschichte ihm gilt.

„ ‚Jetzt hab ich ein Gewehr und einen Flugroller’ sagte der Junge. ‚Die sollen meine Familie sein!’“

Der Hübsche, der alles z’sammschießen würde, sitzt mit großen Augen da. Sein Nachbar, ein sehr kleiner Bub, liegt halb auf seinem Schoß, und der größere hat schützend seinen Arm um ihn gelegt.

Als ich zu der Stelle komme, wo der blaue Junge sich seinen Riesenpanzerroboter baut, macht der blonde Junge auf. Seine verschränkten Hände lösen sich und sein Blick ist interessiert, nicht mehr trotzig. Er hat gemerkt, dass ich den blauen Jungen nicht verurteile dafür, dass er sich abkapseln, dass er sich panzern will. Und dann fliegt der blaue Junge zum Mond, wo ein Mann leben soll, den kein Gewehr erschießen kann. Aber leider – das ist nur deswegen so, weil es auf dem Mond keine Gewehre gibt. „ ‚Ich hab aber mein Gewehr mitgebracht!’ sagte der Junge. ‚Schade’, sagte der Mann, ‚dann kannst du nicht bei mir bleiben. Dein Gewehr könnte mich erschießen.’ ‚Dann muss ich also wieder gehen?’ ‚Ja’, sagte der Mann.“

An dieser Stelle tue ich gerne so, als ob die Geschichte zu Ende wäre. Ich klappe das Buch zu und verbeuge mich. Die Kinder klatschen.

„Hat’s euch gefallen?“

„Ja.“

„Der Schluss auch?“

„Ja.“

„Nein.“

„Hättet ihr lieber einen anderen Schluss gehabt?“

„Na, es wär schöner, wenn er bei dem Mann bleiben könnte. Oder bei dem Mädchen.“

„Ja, aber das ist nicht so einfach, oder?“

Die Kinder diskutieren, was der Junge machen könnte. Schließlich meldet sich der blonde Junge: „Er könnte ja sein Gewehr wegwerfen.“

Gibt’s das? Ich hab’s mir ja gewünscht, dass er es sagen wird, aber dann hab ich mir gesagt, so einfach ist das auch nicht mit der erzieherischen Wirkung von Literatur. Aber hier hat’s vielleicht wirklich einmal geklappt. Ich würde zu gerne wissen, was in dem Buben vorgeht. Was für ein Durcheinander in so einem Kopf, in so einem Herzen. Ich möchte nicht mehr Kind sein, wirklich nicht. Aber ich würde so gerne mehr wissen über ihn. Aber so geht es immer. Ich kann jetzt nicht mit ihm alleine reden. Ich muss hier die Show durchziehen. Für alle. Und dann gehen sie nach Hause und ich gehe zur nächsten Lesung. „Also ich sag euch was: Das war noch nicht der Schluss.“ Und ich klappe das Buch wieder auf: „ ‚Schade’ sagte der Junge...“ 

Und jetzt ist gerade noch Zeit für die Maikäferfrau. Die muss jetzt noch drankommen, die ist ja der eigentliche Anlass für diese Lesung, die soll der Höhepunkt sein. Zum Glück ist der Text kurz. Die Linda versteht es ja immer wieder, aus einer kleinen Geschichte ein großes Buch zu machen.

„Was meint ihr: Sind Abenteuer mehr was für junge Leute oder mehr was für Alte?“

„Na für Junge!“

„Aha? Na, ihr werdet sehen: ‚Es war einmal im Juli – ein Maikäfer!’“

Für ein Abschlusslied reicht die Zeit nun wirklich nicht mehr.  Die Kinder freilich wollen nicht, dass schon Schluss ist.

„Na ja, ich hab ja alle Geschichten aufgeschrieben. Einen ganzen Koffer voller Bücher hab ich schon geschrieben. Und die Bücher, die kann man sich ausleihen. Hier, in der Bibliothek. Und wenn ihr dann zu Hause eine Geschichte von mir lest, dann ist das fast so, als ob ich wieder bei euch wäre!“

Applaus, Verbeugung, die Lehrerinnen organisieren den Abmarsch. Einige kommen zu mir um mir die Hand zu schütteln. Ein kleiner Pfiffiger klopft mir auf den Rücken, weil er die Schulter nicht erwischt, und sagt anerkennend: „So gut hätt ich die Geschichten nicht schreiben können!“

„Deine Geschichten waren super spannend!“ sagt ein Mädchen.

„Mir hat die Maikäferfrau so gut gefallen“,  sagt das dicke Mädchen, das sich die spannende Geschichte gewünscht hat, zu ihrem Zweierreihennachbar, während sie hinausgehen.

„Aber die vom bösen Teufel war auch gut“, sagt er.

Und dann sind sie weg.