(Der Preis ging an das Buch "Prinzessin Rotznase", illustriert von Linda Wolfsgruber, erschienen 2001 im Verlag Bibliothek der Provinz)
Vielen, vielen herzlichen Dank!
Vielen Dank nicht nur für das Diplom und das Kuvert mit dem Scheck. Vielen Dank, dass Sie sich über unsere Arbeit Gedanken machen, sie diskutieren, bewerten, vielleicht auch darüber streiten. Vielen Dank, dass Sie uns ernst nehmen. Vielen Dank, dass Sie unsere Lobby sind. Denn zum Glück hat ja die Kinderliteratur eine Lobby. In den Schulen, in den Bibliotheken, beim Buchhandel, bei Bund, Ländern und Gemeinden, und in den Institutionen, die speziell dafür geschaffen worden sind. Sie alle fördern uns, rezensieren uns, bewerben uns, untersuchen uns, geben uns Preise und arbeiten mit unseren Werken. Und sorgen so dafür, dass es im Bereich der Kinderliteratur nicht nur dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen bleibt, was geschrieben, gedruckt und gelesen werden kann. Denn die Marktkräfte, soviel lässt sich leicht begründen, sind jedenfalls der Vielfalt nicht hold. Das sehen wir an der rasanten Konzentration im Verlagswesen. Das sehen wir am Drang zum Bestseller. Als Buchhändler würde ich auch lieber von einem Titel 200 Exemplare bestellen als von 100 Titeln je zwei. Viel weniger Arbeit für denselben Umsatz. Als Verleger würde ich auch lieber von einem Titel 1 Million Ex. verkaufen als von 200 Titeln je 5000. Das rechnet sich ganz anders, die ganzen Entwicklungskosten, Lektorat, Herstellung und so weiter fallen nur einmal an statt 200 mal, die Druckkosten sinken auch, das ist genauso wie in der Autoindustrie.
Wie das mit den Marktkräften und der Qualität ist, lass ich erst einmal dahingestellt. Ob der Publikumsgeschmack den Markt bestimmt oder der Markt den Publikumsgeschmack, ist viel schwieriger zu beurteilen. Ein Verleger soll einmal seinem Adoptivsohn und Erben auf dem Sterbebett ins Ohr geflüstert haben: Übrigens, auch ein gutes Buch kann ein Bestseller werden. Aber auch wenn es Bestseller gibt, die gute und sogar sehr gute Bücher sind: Einheitsbrei auf hohem Niveau ist auch Einheitsbrei.
Sie alle, die die Kinderliteratur fördern, helfen auf jeden Fall mit, die Vielfalt zu bewahren, bauen einen kleinen Damm gegen den Einheitsbrei, lassen uns nicht allein im Verdrängungswettbewerb. Vielen Dank im Namen von uns allen.
Und vielen Dank auch im eigenen Namen. Ich hab mich auch bei Linda Wolfsgruber zu bedanken, denn dieses Buch verdanken Sie ihr. Sie hat den kleinen Text ausgegraben, der in einem Buch mit Kasperlstücken versteckt war, das ziemlich unbemerkt sein kurzes Bücherleben gelebt hat, und sie hat gesagt: daraus mach ich ein Buch. Die Linda hat aus einem kleinen Scherz ein Kunstwerk gemacht. Der Richard Pils hat das erkannt und hat das Buch verlegt, und Sie haben es mit einem Preis gewürdigt. Vielen herzlichen Dank.
Kasperltheater. Was ist eigentlich so faszinierend daran? Bis heute stirbt es nicht aus, es lebt trotz Fernsehen und im Fernsehen, und im Spielzeuggeschäft sind die Figuren aufgereiht. Seid ihr alle da? Ja, sie sind alle da. Vom König bis zum Seppl, von ganz oben bis ganz unten ist hier die Gesellschaft repräsentiert. Der König repräsentiert die Herrschaft, der Zauberer ist der Chefideologe, der Mann der Wissenschaft, die Hexe die Priesterin, der Polizist Repräsentant der Staatsmacht, der Räuber der Außenseiter der Gesellschaft, Großmutter, Gretl und Seppl repräsentieren das Volk, Prinz und Prinzessin das Mysterium der Liebe, das Krokodil die Naturkräfte. Und der Kasperl – das Ich, das Individuum, das Kind, das sich im Geflecht der Beziehungen zurechtfinden und durchsetzen muss.
In unserem Büchlein gehen wir wenig auf das Geflecht dieser Beziehungen ein. Wir lassen die ganze Gesellschaft nur so eines nach dem anderen Revue passieren, sich einmal vorstellen in einem Reigen menschlicher Torheit, fast so wie in einem mittelalterlichen Totentanz.
Es gibt ein anderes Buch von mir, in dem ich versuche, das Geflecht gesellschaftlicher Beziehungen mit seinen Widersprüchen und gefährlichen Verwicklungen für Kinder durchschaubar und verständlich zu machen. Wo ich vor allem versuche, die Wurzeln des Kriegs, dieser größten und tragischsten Verstrickung, verständlich zu machen. Ich halte dieses Buch eigentlich für mein wichtigstes, aber leider ist gerade dieses Buch von den Jurys und der Kritik ziemlich links liegen gelassen worden – allein die Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach hat es einmal zum Buch des Monats gewählt. Das Buch - es heißt: „Der seltsame Krieg“ - ist ziemlich innovativ. Es handelt vom Krieg, und doch gibt es darin keine Guten und keine Bösen. Ja nicht einmal das Böse als Abstraktum. Es gibt darin Geschichten, die gar keinen individuellen Protagonisten haben. Die nur von Menschengruppen handeln und den tragischen Verwicklungen zwischen ihnen. Vielleicht ist das Buch zu innovativ. Vielleicht noch zu unausgegoren. Vielleicht lag es daran, dass es nur als Taschenbuch erschienen ist. Vielleicht daran, dass die lehrhafte Absicht unübersehbar ist. Vorige Woche bei einem Symposium über Kinder- und Jugendliteratur in Gleisdorf hat Karin Haller ausgeführt, wie sich die Kinderliteratur vom Anspruch des pädagogischen Nutzwerts emanzipiert hat. Und Christine Nöstlinger hat ausgeführt, wie sie sich von der Verpflichtung zum Engagement befreit hat, die ihr vor allem in den 70er Jahren auferlegt worden ist. Die Kinderliteratur hat sich von all dem befreit und wird von Ihnen, die sie fördern, die sie rezensieren und bepreisen als Literatur, als Kunst für voll genommen.
Doch die Kunst, die Literatur hat sich immer die großen gesellschaftlichen Fragen zum Thema genommen, ob Sie die Ilias hernehmen oder die Tragödien des Euripides und Sophokles, Shakespeares Königsdramen, die Romane eines Thomas, eines Heinrich Mann, die Lehrstücke eines Brecht oder Dürrenmatt. Denn was, bitte, kann denn spannender und unterhaltender und abenteuerlicher sein als genau diese gesellschaftlichen Verwicklungen und tragischen Verstrickungen?
Es ist heute dringender als je zuvor – und der 11. September mit seinen bisherigen und noch drohenden Folgen sollte es uns wieder einmal klar gemacht haben – die tragischen Verwicklungen, Verflechtungen und Verstrickungen auf dieser Welt zu durchschauen und aufzulösen. Mit dem Tragischen war in der Antike das Unausweichliche des Schicksals gemeint. Ich meine mit dem Tragischen die Tatsache, dass die Menschen, indem sie als Individuen oder als Gruppen unterschiedliche Ziele verfolgen, Ergebnisse hervorbringen, die keiner vorhergesehen und keiner gewollt hat. Wenn man zwei Ochsen vor einen Karren spannt, und der eine zieht nach Osten, der andere nach Norden, so ist die Resultierende Nordosten, eine Richtung, in die keiner gewollt hat. Nicht von ungefähr ist die Tragödie in Griechenland entstanden, einer Handelskultur. Wenn der Weizenpflanzer zugrunde ging während der Weinbauer prosperierte, so lag das nicht an ihrem jeweiligen Fleiß, nicht am Beschluss einer Volksversammlung oder am Dekret eines Königs, auch nicht am Wetter, sondern an der Entwicklung der Marktpreise, der Resultierenden aus den Handlungen unzähliger Unbekannter.
Unausweichlich ist das Schicksal nur, solange die Verstrickungen nicht durchschaut werden. Erst dann können die Menschen ihre Handlungen miteinander koordinieren, bewusst koordinieren für gemeinsame Ziele.
Erich Fromm hat eine „Wissenschaft vom Menschen“ gefordert. Was ist das Menschenwesen und was bestimmt sein Schicksal. Dazu gehören Psychologie, Biologie, Anthropologie, Soziologie, Ökonomie, Systemtheorie... Zu unseren Aufgaben als Künstler gehört es auch, meiner Meinung nach, dass wir uns mit den Ergebnissen dieser Wissenschaften vertraut machen, dass wir da auf der Höhe der Zeit sind. Es geht nicht um Tagespolitik. Die Kunst braucht sich nicht um jede Auslandsreise eines Landespolitikers zu bekümmern. Es geht auch nicht um Meinungen: Ich bin für das, gegen das. Auch nicht ums Partei ergreifen: für die Unterdrückten, gegen die Unterdrücker. No na. Es geht mir in erster Linie ums Verstehen.
Das größte Abenteuer steht der Menschheit noch bevor, das Abenteuer, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen, sich von den tragischenVerstrickungen zu befreien. Uns und unsere Kinder auf dieses Abenteuer vorzubereiten, sehe ich als eine unserer wichtigsten Aufgaben an. Denn es gibt noch eine Figur im Kasperltheater. Sie kommt in unserem Buch nicht vor, und auch die Spielzeugindustrie stellt sie nicht mehr her: