Artikel für die "Wiener Zeitung"
Februar 1999
Ein Rätsel, das einen Autor, der einen Text geschrieben hat, plagt,
ist dieses: Wie liest, wie empfindet man diesen Text, wenn man ihn als
Leser liest. Ich, der Autor, weiß nur, wie einer den Text liest, der ihn
selber geschrieben hat. Da ich aber der einzige auf der ganzen Welt bin,
der in der Situation ist, diesen Text geschrieben zu haben, hat meine Leseerfahrung
herzlich wenig mit der anderer Leser zu tun. Mein Text mag Überraschungen
enthalten - mich überrascht er nicht. Mein Text mag spannend sein - mich
spannt er nicht auf die Folter, ich weiß ja, "wie es ausgeht".
Ich weiß nur, welche Bilder in meinem Kopf diesen Text ausgelöst haben.
Aber ich weiß nicht, ob die Bilder, die den Text gezeugt haben, denen ähneln,
die der Text in anderen Köpfen zeugt. Ich kann versuchen, zehn Jahre zu
warten, bis ich den Text vergessen habe, und ihn dann als unbefangener
Leser zu lesen - doch dann bin ich wohl auch selbst ein anderer geworden
und nicht mehr der, jedenfalls nicht mehr ganz der, der diesen Text geschrieben
hat.
Wenn einen solche Fragen plagen, dann ist es ein Glücksfall, ein Kinderbuch
zu schreiben. Denn Kinderbücher werden illustriert. Der Autor eines Kinderbuches
ist in der privilegierten Lage, seinen eigenen Text durch die Augen eines
Anderen sehen zu dürfen. Wenn eine Künstlerin oder ein Künstler einen Text
von mir illustriert, ist das, was mich bewegt, nicht die Sorge: Wird sie
ihn auch "richtig" illustrieren? Sondern die Spannung, zu erfahren, wie
mein Text in ihren Augen eigentlich aussieht. Natürlich sind die Bilder
nicht einfach Manifestationen meines Texts in einem fremden Hirn. Die Künstlerin
gibt das Ihre dazu, die Bilder sind genauso das Produkt ihrer Lebenserfahrung,
ihrer Einstellungen, Ansichten, Einsichten usw. Aber das Seine dazugeben,
das tut schließlich jeder Leser. Bei keinen zwei Lesern wird meine Geschichte
auf die gleiche Weise ankommen, das muß ich als Autor sowieso akzeptieren.
Also sind Illustrationen noch immer die beste Lösung des Rätsels, die ich
kenne.
Als mich einmal ein acht- oder neunjähriges Mädchen bat, ihr eine Geschichte
mit dem Titel "Warum der Hase lange Ohren hat" zu schreiben, habe ich mich
noch am selben Nachmittag hingesetzt und ihren Wunsch mit ein paar Zeilen
erfüllt. Ich war ziemlich erstaunt, als Linda Wolfsgruber gerade diesen
Text für ein Bilderbuch auswählte. "Das reicht doch nie für ein ganzes
Buch". Linda war anderer Meinung. Ich konnte die Entstehung der Bilder
von der Skizze bis zur Radierung Tag für Tag mitverfolgen, und mit jedem
Bild bekam ich eine bessere Meinung von meiner Geschichte. Als das Buch
fertig war, war ich überzeugt, einen großartigen Text geschrieben zu haben.
Linda Wolfsgruber ist so weitherzig, mir diese Überzeugung zu lassen.