Kinderliteratur und Gesellschaft

Diskussionsbeitrag für ein Symposium des steirischen Buchklubs der Jugend 2002

 

Welchen Stellenwert hat die Kinderliteratur in unserer Gesellschaft, wenn ein Fünftel unserer Kinder gar nie lesen lernt? Ein Viertel aller Mädchen und ein Sechstel aller Buben!

Wenn jedes achte Kind arbeiten muss um Geld zu verdienen und die Hälfte davon ganztags! Und zusätzlich jedes fünfte Kind den ganzen Tag ohne Bezahlung in der Landwirtschaft oder im Haus der Eltern arbeiten muss. Wenn eins von 250 arbeitenden Kindern sein Geld mit Sexdienstleistungen verdient. Wenn jedes achte Kind hungert. Wenn jedes 13. Kind auf der Straße lebt.

Ach so! Einen Moment waren Sie verwirrt, aber dann haben Sie’s gleich kapiert: Er meint gar nicht unsere Kinder, das sind ja globale Zahlen. Doch, ich meine unsere Kinder.  Ich war gerade einen Monat in Delhi. Allein in Delhi leben 400.000 Kinder auf der Straße. Die karitativen Organisationen, die sich um die Straßenkinder kümmern, erreichen so ungefähr 10.000 von ihnen. Einer der Sozialarbeiter, selbst ein ehemaliger Straßenjunge, hat mich gefragt: „Was macht ihr für eure Straßenkinder?“

„Bei uns leben keine Kinder auf der Straße“.

„Was für eine humane Gesellschaft.“

„Nein.“ Habe ich gesagt:  „Unsere Straßenkinder sind hier.“  Ich meine das ernst. Unsere Straßenkinder sind in Delhi, in Rio, in Nairobi.

Wenn ein Schiff mit überschüssigem EU-Mais, der mit falschen Papieren als ägyptischer Mais ausgewiesen wird, in Mombasa anlegt, dann sinkt der Preis für einen Sack Mais von 1000 Keniashilling auf 750. Dann werfen wieder ein paar kenianische Bauern, die  mit Hacke und Spaten und einer kleinen Dieselpumpe und einem für zwei Wochen gemieteten Traktor ihr Land bebaut haben, das Handtuch und vergrößern die Zahl der Arbeitsuchenden in den Slums von Nairobi, dann können wieder ein paar die Schuluniform für ihre Kinder nicht kaufen und verstecken sie vor den Schulbehörden, dann besaufen sich wieder ein paar verzweifelte Familienväter und verprügeln Frau und Kinder und ihre Söhne laufen davon, ziehen ein von Klebstoffdämpfen beduseltes Leben mit Betteln und Huren vor und die Zahl der Straßenkinder der Welt vermehrt sich wieder um ein paar.

Özcan Babat, 12 Jahre alt, näht Hosen in der Firma „Bermuda“ in Istanbul. Von acht Uhr früh bis halb sechs am Abend. Für 22 Millionen Türkische Lire im Monat. Der Auftrag kommt von der Firma Bogazici Hazir Giyim. Bogazici Hazir Giyim verteilt die Orders der Firma Benetton an Subkontraktoren in der Türkei. Ein Kinder-Winterpullover im Benetton-Geschäft in Istanbul kostet 38 Millionen Lire, das ist das 1,7fache Monatsgehalt von Mehmet. Mehmets Monatsgehalt beträgt 900 Schilling. Der Pullover kostet 1.500 Schilling. Teuer, nicht wahr? Für einen Kinderpullover! Aber wieviele solche Pullover könnten Sie um ein Monatsgehalt kaufen? Zehn? Oder zwanzig? Und wieviel müsste so ein Pullover kosten, wenn Mehmet einen vergleichbaren Lohn bekäme? Mehmets Lohn macht nur 5% an den Gesamtkosten aus. Wenn Mehmet statt 900 9000 Schilling verdienen würde, was bei uns schon ziemlich an der untersten Grenze ist, dann würde der Pullover um die Hälfte mehr kosten, nämlich 2.250 Schilling. Wenn Mehmet einen Lohn bekommen würde, der immer noch weniger als die Hälfte der Durchschnitslöhne bei uns ausmachen würde, könnten wir uns um ein Drittel weniger Benetton-Pullover leisten.

Verdanken wir unseren Wohlstand wirklich nur unserem Fleiß und unserer Intelligenz?

Ähnliches könnte ich Ihnen vorrechnen für Disney-Spielzeuge aus Guangdong, Adidas-Schuhe aus Djakarta, Levis Jeans, C & A Produkte, ach, was immer sie wollen. Zu unser aller Beruhigung kann ich Ihnen jetzt keine Namen von österreichischen oder deutschen Kinderbuchverlagen nennen, die ihre Pop-Up-Bücher von fleißigen Kinderhänden in Fernost zusammenkleben lassen. Aber vielleicht ist jemand unter uns, der aushelfen kann.

Ich meine, wenn unsere Kinderliteratur sich mit diesen Zusammenhängen nicht befasst, dann wird ihr Stellenwert ind er Gesellschaft von heute auch nicht sehr groß sein. Wir leben in einer globalisierten Welt, und unsere Gesellschaft endet nicht an den Grenzen des Landes. Auch nicht an den Grenzen des Schengen-Abkommens oder an den Grenzen von Euroland. Es gibt nur mehr eine Gesellschaft auf dieser Welt.