Martin Auer
Rotenmühlgasse 44/30
A-1120
 

Prof. Dr. phil. habil. W. Schellenberg
 

19. Dezember 1995
 

Lieber Herr Professor Schellenberg,

hier ein paar Gedanken zu Ihren Fragen über das "Sprach-Nachdenken". Hoffentlich helfen sie Ihnen weiter.

1.
Beim Schreiben selbst ist das Nachdenken über Sprach- und Kommunikationsprobleme natürlich Ausdruck davon, daß ein Problem, ein ungelöstes Problem aufgetaucht ist, und das empfinde ich dann im Moment eher als unangenehme Störung. Das Schreiben sollte in meiner Idealvorstellung in einem eher träumerischen Zustand geschehen, in dem ich versuche, den Fortgang der Geschichte und den Tonfall der Erzählung auf mich selbst wirken zu lassen. Oder in dem ich mit einem eingebildeten Publikum kommuniziere. Wenn ich beim Kommunizieren über Kommunikation nachdenke, geht es mir wie dem Tausenfüßler, der beim Gehen übers Gehen nachdenkt. (So zum Beispiel jetzt, während ich diesen Brief schreibe. Vom Thema angeregt, beobachte ich mich selbst beim Schreiben. Dabei stelle ich fest, daß für mich das Schreiben tatsächlich ein eingebildetes Gespräch ist. Ich "höre" Einwände gegen meine Argumente und versuche sie gleich zu entkräften. Ich "höre" eingebildete Gesprächspartner meine Gedanken verdreht oder verwirrt wiedergeben und reagiere darauf, indem ich meine Gedanken klarer darstelle und so weiter...)

Wenn ich über Sprach- und Kommunikationsfragen nachdenke, dann nicht so sehr als Schriftsteller, der über sein Handwerk nachdenkt. Vielmehr dann, wenn ich über die Menschen nachdenke, von denen ich erzähle, über die Mißverständnisse, die zwischen ihnen geschehen, wie sie einander belügen, täuschen, sich selbst täuschen und so weiter. Aber davon soll ja hier nicht die Rede sein.

Im Zusammenhang mit meinen eigenen Texten kommt das Nachdenken über Sprach- und Kommunikationsprobleme oft erst hinterher. Ich taste mich mehr vom Gefühl oder Instinkt als von sonst etwas geleitet zum richtigen Text vor. Aber hinterher, wenn ich zum Beispiel mit einer Lektorin über ihre Ändrungsvorschläge diskutiere, denke ich darüber nach: "Warum habe ich das eigentlich so und nicht anders geschrieben", und finde hieb- und stichfeste, psychologisch und linguistisch abgesicherte Argumente dafür, warum mein Text nur so und nicht anders lauten muß. Also während des Schreibprozesses sind meine Kriterien, wenn sie überhaupt in Worte gefaßt werden können, eher von der Art: "nein, das klingt noch nicht richtig..., nein, das paßt hier nicht her..., ach, da fehlt noch was, wenn ich nur wüßte, was...". Aber hinterher kann ich meinen Text auch theoretisch analysieren.

2.
Beim Schreiben für Kinder taucht naturgemäß immer wieder die Frage auf: Verstehen die Kinder das denn schon, kennen sie wohl dieses Wort, verstehen sie diese grammatische Form, ist dieser Ausdruck "zu hoch" oder "zu niedrig" gewählt? Macht man sich über diese Fragen Sorgen, dann stößt man bald auf das Dilemma: Beschränke ich mich auf die schon verstandenen Formen, können die Leser nichts dazulernen, gehe ich über das schon Bekannte hinaus, verstehen sie mich am Ende nicht. In der Praxis löst sich das Dilemma allerdings auf eine sehr komplizierte, aber ganz natürliche Art (abgesehen davon, daß die ganze Fragestellung sich auf die hypothetischen Kenntnisse eines hypothetischen Publikums, oder bestenfalls auf die durchschnittlichen Kenntnisse eine durchschnittlichen Publikums bezieht): Aus dem Zusammenhang der Geschichte erschließen sich die Kinder die Bedeutung der Formen, und die verstandenen Formen ermöglichen ihnen das tiefere Verstehen der Geschichte. Hält man sich vor Augen, daß die Kinder die Sprache eben durch ihren (aktiven und "passiven") Gebrauch erlernen, wandelt sich das Problem. Die Frage nach der Verständlichkeit der einzelnen Form verliert an Bedeutung. Aber es stellt sich die viel komplexere Frage, ob die Gesamtheit des Textes diesem Lernprozeß förderlich ist. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, ob die ganze Geschichte überhaupt interessant und bedeutsam genug ist, daß die lesenden Kinder sich die Mühe machen, sich ihr Verständnis zu erarbeiten oder gar zu erkämpfen.
Ich habe einmal miterlebt, wie eine ganze Sonderschulklasse von Kindern mit allen nur vorstellbaren Lesebehinderungen sich in einer Bücherei auf die Bücher gestürzt hat, und wie die Kinder sich mit einem geradezu hungrigen Eifer die Geschichten zusammenbuchstabiert, zusammengestottert und zusammengereimt haben. Seither weiß ich, daß das wichtigste Kommunikationsmittel die Motivation ist. Es kommt also vor allem darauf an, im Gegenüber den Wunsch zu verstehen zu wecken. So mancher Autor dringt zum Beispiel nicht zu mir durch, weil er mir das Gefühl vermittelt, es ist ihm eh egal, ob ich ihn verstehe oder nicht. Also geb ichs einfach auf und lese nicht weiter.

3.
Ein spezielleres Kommunikationsproblem sind die landschaftlichen Unterschiede in der deutschen Schriftsprache. Wer sich die Schuhe mit einem "Schnürsenkel" bindet, weiß oft nicht, was ein "Schuhriemen" ist. Das Wort "Quark" klingt in den Ohren eines "Topfen"-Essers geradezu unappetitlich. Der einheitliche deutsche Sprachraum ist eine Fiktion, der deutsche Buchmarkt eine beinharte Realität. Üblicherweise wird ein österreichischer Autor vom (österreichischen ebenso wie vom deutschen) Verlag sanft aber bestimmt dazu angehalten, statt "Jänner" "Januar" zu schreiben. Wenn das Thema es erfordert, dann kämpft der Autor mit allen ihm zur Verfügung stehenden Argumenten darum, daß "dies eine Buch unbedingt ein österrreichisches, ein wienerisches sein muß" (Hier meine ich mein jüngstes Buch: "Küß die Hand, gute Nacht, die liebe Mutter soll gut schlafen", Kerle 1996), und hängt in Gottes Namen sogar ein Glossar an. Doch in den meisten Fällen tragen wir alle - getrieben vom eigenen Wunsch nach einer möglichst großen Leserschaft und vom Bedürfnis des Verlags, den gesamten deutschsprachigen Markt zu bedienen - zur Vereinheitlichung und damit auch zu einer gewissen Verarmung der deutschen Sprache bei, verzichten um der Allgemeinverständlichkeit willen auf Nuancen und Feinheiten, die nur der lokale Ausdruck vermitteln könnte.

4.
Ich recherchiere beim Schreiben nie in einem "Sprachbuch". Nur beim Übersetzen.
 

5.
(Siehe auch Punkt 2.)

Das Schreiben ist ein Abenteuer, auf das man sich einlassen muß, voll unvorhergesehener Abenteuer und Gefahren. Das "Nachdenken über Sprache und die literarisch-künstlerische Verarbeitung" ist nicht unbedingt wesentlich für gutes Schreiben. In jeder Kunstsparte gibt es Künstler und Künstlerinnen, die gleichzeitig auch hervorragende Theoretiker ihres Fachs sind. Aber es gibt auch solche, die "es einfach tun", ohne groß darüber nachzudenken. Die letzteren müssen nicht unbedingt, die schlechteren sein. Wer für Kinder schreiben will, braucht keine speziellen Kommunikationstheorien. Vielmehr als das braucht sie oder er intensiven Bezug zur eigenen Kindheit, praktische Erfahrung im Umgang mit Kindern, und vor allem: einen wichtigen Grund, für Kinder zu schreiben. Wer kommunizieren will, muß zuerst einmal etwas zu sagen haben.