Was ich lese - Antwort auf eine Umfrage der "Stiftung Lesen"
 

November 1993
 

Ich war als Kind schon so von Büchern fasziniert, daß ich mir vornahm, selber auch einmal Bücher zu schreiben. Meine Mutter hat uns Kindern immer viel vorgelesen, sie selber hat auch viel gelesen, und das hat uns natürlich sehr beeinflußt. Es war vielleicht so, daß ich mich als Kind sogar zu sehr für Bücher interessiert habe. Ich war sehr enttäuscht, als ich entdeckte, daß die wirkliche Welt nicht so spannend, so reich an bedeutenden Erlebnissen ist, wie sie in den Büchern geschildert wird. Falsch - das stimmt natürlich nicht. Die Welt ist reicher, als es Bücher jemals sein können. Nur: das Leben des Einzelnen ist meistens nicht so dicht gepackt mit spannenden Erlebnissen, wie es das in Romanen oft ist. Viele Bücher schildern auch einfach eine falsche Welt, lassen die häßlichen Seiten des Lebens aus, schummeln sich um Probleme herum und so weiter. Das gilt für Bücher genauso wie für Filme oder Fernsehsendungen. Herauszufinden, daß man sich auf die Bücher nicht einfach verlassen kann, daß man selber herausfinden muß, wie die Welt wirklich ist, selber entscheiden muß, wem man glauben darf und wem nicht, war für mich ziemlich schmerzhaft. Trotzdem bin ich ein Büchermensch geblieben. Denn trotz der großartigen Möglichkeiten, die Film und Fernsehen, Schallplatten, Fotos und Computer bieten, sind es noch immer in erster Linie die Bücher, die uns ermöglichen, mit den Gedanken von Menschen an anderen Orten und zu anderen Zeiten in Kontakt zu treten. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, in der alles Wissen der Menschheit in großen Computern gespeichert sein wird, aus denen ein jedes alles abrufen kann. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Der Wissensspeicher, das Gedächtnis der Menschheit, das sind heute noch immer die Bibliotheken.
Als Kind waren meine Lieblingsbücher zum Beispiel "Pu, der Bär" von A. A. Milne - ich selbst habe mir mit meinen Stofftieren eine ähnliche Traumwelt wie Christopher Robin geschaffen - , die Bücher von Astrid Lindgren - die rebellische Pippi Langstrumpf hätte ich gerne zur Freundin gehabt - , von Tove Jansson - ich wäre gern ein Träumer und Abenteurer wie Mumin gewesen, mit einer so verständnisvollen Familie wie der seinen als Rückhalt -, später die Indianerbücher von Lieselotte Welskopf-Henrich.
Auch die surreale Welt von Christian Morgensterns "Galgenliedern" hat mich sehr beeindruckt. Ich habe viele klassische Theaterstücke gelesen, Grillparzer und Shakespeare etwa, und auch die wiener Volksstücke von Johann Nestroy.
Als Jugendlicher war Bertolt Brecht für mich ungeheuer wichtig und auch Bob Dylan. Abenteurer und Rebellen wie Jack London und Jack Kerouac haben mich beeindruckt, Salingers "Fänger im Roggen", Hermann Hesses "Steppenwolf" und "Siddharta".
Ich habe Karl Marx und Siegmund Freud studiert. Ich wollte als Revolutionär die Welt verändern.
Heute sind es wohl die philosophischen Werke von Erich Fromm und das pädagogische Werk von Bruno Bettelheim, die mein Denken stark beeinflussen.
Zu den schönsten Kinderbüchern, die mir in den letzten Jahren untergekommen sind, gehören die von Jürg Schubiger - zum Beispiel "Das Löwengebrüll" - die Gedichte von Franz Wittkamp - "Ich glaube, daß du ein Vogel bist" - und das Bilderbuch "Else-Marie und die kleinen Papas" von Pia Lindenbaum.
Jungen Menschen von heute könnte ich beispielsweise die Bücher von Kurt Vonnegut empfehlen oder die von Richard Brautigan, vor allem "Die Abtreibung" und "In Wassermelonen Zucker". Philosophisch Interessierte möchte ich gern auf die Bücher von Raymond Smullian aufmerksam machen, zum Beispiel "Simplicius und der Baum".
Und wer Kriminalromane mag: Raymond Chandler und Dashiell Hammett sind bis heute unübertroffen.

Martin Auer