DIE ABENTEUER IM KOPF - ÜBER MARTIN AUER

Von Hans-Joachim Gelberg

(Hans-Joachim Gelberg, geb. 1930, gründete 1971 das Kinder- und Jugendbuchprogramm Beltz & Gelberg und leitete es bis 1997. Er war der erste Verleger von M.A. Heute lebt er als freischafffender Autor und Herausgeber in Weinheim. Die folgende Rede hielt er anlässlich der Verleihung des Österreichischen Förderpreises für Kinder- und Jugendliteratur an M.A.)

Das ist eigentlich noch nicht lange her, seit es Bücher von Martin Auer gibt. Mir jedenfalls kommt es so vor, und ich zähle ihn immer noch zu den jungen Autoren, die man fördert und würdigt, denen man aber noch manches mehr abverlangen muß. Und doch sind in zehn Jahren allerhand Bücher (15 sind es, glaub ich) zusammengekommen. Martin Auer beginnt sein erstes Buch mit einem „Kopfhaus":

Mein Kopf ist wie ein Haus 
mit siebentausend Räumen.

Und jeder Raum ist voll
mit siebentausend Träumen. ...

Auf einer CD in meiner Sammlung singt, spricht Andre Heller sein „Die wahren Abenteuer sind im Kopf, und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo". Die wahren Abenteuer des Martin Auer begannen auch für mich abenteuerlich. Viele kennen diese Geschichte, deshalb kann ich es damit kurz machen. Christine Nöstlinger sagte mir am Telefon, du, da ist einer - gleich zwei Manuskripte hat er mir zur Vermittlung gebracht, einen dicken Roman von einem Zauberer, der ist merkwürdig ausgedacht, so geht das wohl nicht, aber in dem anderen Packerl sind Geschichten und Gedichte, die haben was. Ich les dir rasch mal etwas vor! Und im weiteren Verlauf, nach etlichen Monaten fast zu spät, stand ich in Wien vor Martin Auers Tür und wollte den kennenlernen, der so unversehens ein Stück Kindheitsphilosophie in völlig neuer Tonlage dichten kann:

Wenn statt mir jemand anderer
auf die Welt gekommen war, vielleicht meine Schwester
oder mein Bruder
oder irgendein fremdes, blödes Luder —
wie wär die Welt dann
ohne mich?
Und wo wäre denn dann ich?
Und würd mich irgendwer vermissen?
Es tät ja keiner von mir wissen.
Statt mir wäre hier ein ganz anderes Kind,
würde bei meinen Eltern leben
und hätte mein ganzes Spielzeug im Spind.
Ja, sie hätten ihm sogar
meinen Namen gegeben!

(Aus: Was niemand wissen kann, 1986)

Wie wird man Autor? Eigentlich ganz einfach, man veröffentlicht Bücher. Auer selbst erklärt es so:

Nach der Schule hab ich zunächst mal versucht, an der Universität zu studieren, aber das war mir zu langweilig. Dann war ich Schauspieler, dann war ich Musiker, Sänger, damals hab ich hauptsächlich Lieder geschrieben. Dann war ich Journalist, dann war ich sogar in der Werbung und public relations, das war mir ziemlich fürchterlich. ... Als ich davon die Nase voll hatte, hab ich wieder angefangen Musik zu machen, und nebenher dann mal gesagt, jetzt schreib ich ernsthaft was. Und seitdem bin ich Kinderbuchautor im Hauptberuf und schreib nebenberuflich auch noch andere Geschichten für Erwachsene. ...

„... unversehens ein Stück Kindheitsphilosophie" ist zu finden in Auers Gedichte- und Gedankensammlung „Was niemand wissen kann" — lll. von Hansi Linthaler

Ich weiß nicht, ob man dies in den Ausbildungskatalog für junge Autoren aufnehmen kann. Jedenfalls war es für Martin Auer offensichtlich eine notwendige Vorübung, um gute Kinderbücher schreiben zu können. Ich weiß, es gehört noch sehr viel mehr dazu. Man muß zum Beispiel ein Zauberer sein.

Sein erstes Kinderbuch „Was niemand wissen kann" hat mich stark gemacht. Nun kann nichts mehr schiefgehen, dachte ich. Damit meinte ich nicht die noch zu verkaufende Auflage, sondern (sozusagen in der Bühnensprache) den ersten Auftritt des neuen Autors, seine Premiere. Anhand von „Was niemand wissen kann" sollte man wissen, daß dieser Autor nur mit

einer Handvoll Kindergedichte unsere Kinderlyrik bereichert hat. Hier ist etwas entstanden, das sich mit großen Vorbildern messen kann. Seine Texte sind in ihrer Entstehung sicher beeinflußt vom Auftritt als Zauberer und Unterhaltungskünstler.

Wie fesselt man Kinder? Nichts ist bekanntlich schwieriger, als sein Publikum — durch Sprache - bei Laune zu halten. So hat es (vor langer Zeit) schon ein gewisser Ringelnatz gemacht.

Martin Auers Geschichten wurden allmählich länger. Ja, es erschien sogar ein Roman („Die Jagd nach dem Zauberstab") als 15-Seiten-Fortsetzung getarnt zuerst im Bunten Hund. Und es entstand seine Nacherzählung des bewährten Kinderbuchklassikers „Der wunderbare Zauberer von OZ". Im Grunde eine Auftragsarbeit - und doch, wie Auer den weltbekannten Stoff im Detail, im Dialog umformte und zu einem „echten" Auer machte, das muß man vergleichend lesen, um es zu wissen.

Was ist denn nun der echte Auer? Ist er ein Einfallsfinder? Er selbst sagt, er findet seine Einfälle auf der Straße. Ist er ein Sprachzauberer, einer, dessen Texte laut gesprochen immer schöner werden? Er selbst sagt, Dichten ist so eine Art Zaubern mit Sprache. Ist er einer, der Kindern und auch dem kleinen Martin von früher zuhören kann? Ist er einer, der zum eigenen Vergnügen schreibt? - Ja, dies alles kommt bei ihm zusammen, Kinderliteratur ist ja, ist sie nicht mittelmäßig, immer eine Literatur größter Anforderung: Sie muß Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gefallen. Damit befinden wir uns in allerbester Pu-der-Bär-Tradition.

Der Traum von der Existenz eines ECHTEN Zauberstabes ist dem Zauberer Martin Auer nicht fremd. Seine erste längere Erzählung dreht sich folgerichtig um „Die Jagd nach dem Zauberstab". —lll. von Hans Döring

Martin Auer hat so ganz nebenbei der ohnehin wenig gepflegten Form der kleinen Geschichte einen eigenen Tonfall beschert. Man sollte ihn aber nicht mit anderen Autoren der kurzen Form vergleichen - Auer ist immer ganz Auer -, aber was er mit Autoren wie Hohler oder Schubiger gemeinsam hat, das ist wohl seine Vorliebe, die Welt neu zu entdecken, und zwar ganz von Anfang an. Entdeckungen, die die Sprache macht.

Zum Beispiel so eine Geschichte wie „Bimbo und sein Vogel":

Eines Tages sagte Bimbo zu seinen Eltern: „Ich will einen Vogel haben!" - „Ach, du meine Güte!" sagte die Mutter. - „Na, na, na!" sagte der Vater. ...

Das ist Sprachspiel. Es ist aber auch Spiel mit Personen, mit Rollen, mit unterschiedlichen Vorstellungen. Über Sprache kommt Auer zu „Handlungsträgern", die übrigens selten Tiere sind. Er erzählt keine Mausege-schichten, wie sie allerseits beliebt sind, es sind allesamt Menschengeschichten. Auch die Geschichten von „Pechvögeln und Unglücksraben" erzählen ja unausgesetzt aus der Wirklichkeit der Kinder mit Erwachsenen. Der ungeschickteste Junge der Welt oder Lili Verlierli oder das Kind, das nicht an Gespenster glaubte - hier haben wir es mit der Schule des Lebens zu tun. Auch der blaue Junge, der auf einem fernen Planeten die Ursache des Kriegs sucht, gehört dazu. Ebenso die Kinder, die das Raumschiff besteigen und tausend Jahre fliegen, Anja, 

Carlotta und ich, bis in die schwarze Finsternis, die Carlotta und die andern einfach durch Wörter auflösen, Wörter wie „Entengrütze" - „Mützenquaste" - „Schnabeltier" - „Bärenzucker" und „Hol's der Geier". Diese Geschichte vom Raumflug der Kinder ist im übrigen eine der schönsten kosmischen Traumgeschichten, die ich kenne. Martin Auers Vorliebe für Zukunftsutopien (er veröffentlichte auch Sciencefictionstories) ist unverkennbar. Dabei ist unter seinen „Abenteuern im Kopf auch dieses eine, allergrößte Abenteuer: Wie verändern wir die Zukunft Welt, damit sie bewohnbar bleibt?

Lili Verlierli verliert alles, auch ihren Kopf- aber damit ist sie nicht alleine. So erzählt in den Menschengeschichten „Von Pechvögeln und Unglücksraben". — Hl. von Simone Klages

Nur Träumer, die das Undenkbare denken, machen das Unmögliche möglich — und so wird es vielleicht einmal möglich sein, ohne Kriege auszukommen: So lautet eine der Wunschgeschichten aus „Der bunte Himmel" - lll. von Beate Speck-Kafkoulas

Damit deutet sich eine weitere Erzählebene bei Auer an: Er ist, vermute ich mal, ein Moralist. Auch Kinder sind im Grunde ihres Herzens Moralisten. Sie ordnen die Welt neu, erforschen Ursachen und betrachten die Dinge dieser Welt neugierig. Sie sind (wie der große Wiener Philosoph Popper) davon überzeugt, daß es immer für alles eine Lösung gibt.

Diesem Verlangen hat Martin Auer in seinen Geschichten viel Raum gegeben. Ja, er geht so weit, Vorschläge und Wünsche von Kindern zu verarbeiten, zum Beispiel in seinen Wunschgeschichten („zum Lachen und Wundern, zum Nachdenken und Nachträumen"). Auch seine bildträchtige Geschichte von der Evolution („Was die alte Maiasaura erzählt") ist ursprünglich ein Kinderwunsch.

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Und immer wieder zaubert sich Auer sprach-spielerisch in die Herzen seiner Fans: „Ich fühle mich wohl, Du fühlst dich wohl, Wir fühlen einander wohl." — Soviel über Knurpels grammatikalischen Charme in „Sommer des Zauberers" — lll. von Verena Ballhaus ....... . . ..

Eine Geschichte liebe ich ganz besonders. Sie ist nur kurz, obwohl sie einem ganz lang vorkommt. Diese Geschichte heißt „Geschichte" und erzählt ist sie wie in einem Kreislauf, der nie endet, Ursache und Wirkung reihen sich endlos aneinander. Ich habe selten einen solchen Sog verspürt, lesend immer mehr Teil dieser einen Geschichte zu werden. Und wenn man es sich genau überlegt, dann gibt es die Welt, solange diese Geschichte erzählt wird. Wehe, der große Erzähler hört auf zu erzählen!

Noch etwas mischt sich deutlich in Auers Erzählkunst. Das ist die Natur. Genauer: Auer holt sie in seine Geschichten. Im „Sommer des Zauberers", zwischen verrückten, komischen, auch zarten Figuren, gibt es diesen Knurpel, der den Ameis erklärt - das ist Naturliebe. Oder es ist zu erfahren, „warum es gelbe Raupen mit roten Streifen gibt". Und es sind Geschichten durch den Jahreslauf entstanden, „Joscha unterm Baum". In allen diesen Geschichten ist die Natur nicht Staffage oder Vorwand (wie man halt so einen Sonnenuntergang beschreibt), sie ist Erlebnis, Lebensgefühl.

Dieser Zusammenhang hat mich seinerzeit angeregt, Martin Auer zu fragen, ob er ein Buch über den Insektenforscher Jean-Henri Fahre schreiben wolle. Ich hätte für dieses Thema keinen besseren finden können. Die zehnbändigen Erinnerungen von Fahre selbst sind ja Meisterwerke, leider nur spärlich ins Deutsche übersetzt. Auer stand vor einer riesigen Aufgabe. Abschließend schrieb er mir:

„ ... hier ist also das Werkchen, an dem ich jetzt neun Monate lang und ziemlich regelmäßig und ausdauernd gearbeitet habe. ... Die Befassung mit Fabre hat mir jedenfalls große Freude gemacht und Nutzen gebracht. Sie hat mich einen großen Menschen kennenlernen lassen, meine naturwissenschaftlichen Kenntnisse und auch meine Französichkenntnisse erweitert. ..."

Auers Buch über Fabre verdient Respekt und darüber hinaus unsere Liebe. Es gehört ohne Zweifel zu den Büchern, auf die Verlag und Autor stolz sein können.

* Nicht Staffage noch Vorwand sondern Natur als Erlebnis — auch Christine Sormanns Illustrationen vertiefen diesen Zusammenhang („Joscha unterm Baum").

 

Dem Zauber von Buchstaben und Schrift begegnet sie, „als Viktoria allein zu Hause war". — Die erfolgreiche Zusammenarbeit Martin Auers mit der Illustratorin Simone Klages erfuhr mit diesem Buch eine Krönung: den Österreichischen Kinderbuchpreis

Ein weiterer Hinweis auf Auers Erzählkunst. - Eine besonders wichtige, aber auch überaus schwierige Variante im Themenbereich der Kinderliteratur ist der immerwährende Versuch, befreiend, emanzipatorisch zu sein. Was mit Mittelmäßigem oder gar mit Falschem knechtet (dafür gibt es ja viele Beispiele in dieser Literatur), ist schwer zu erkennen und auszutreiben. - Dies eben trifft auf Auers Kinderliteratur nicht zu. Seine Abenteuer im Kopf sind keine Pseudo-Abenteuer. Und mit Kim (ist sie nun weiblich oder ist er männlich?) in „Was niemand wissen kann" hat er Fragen nach den Dingen dieser Welt gestellt, Fragen an dich, an mich, an sich. Nur die Schlußbemerkung ist rätselhaft:

Dieses Buch habe in Wirklichkeit ich geschrieben. Den Martin Auer gibt es gar nicht. Den denke ich mir manchmal aus, wenn ich vor mich hinträume und mich an die Zeit erinnere, als ich noch erwachsen war. Kim.

Ja, was denn! Das setzt doch allem die Krone auf! Kim hat das geschrieben, was Martin Auer schreibt? Nein, alles kann man nicht glauben. Es gibt ihn doch, den Martin Auer, das weiß ich ganz genau!