Dieser Artikel auf Russisch
- Dieser Artikel auf Dänisch
Martin Auer
Wie kommt der Krieg in die Welt?
Konflikt, Kooperation und Konkurrenz
unter
dem Gesichtspunkt der Selbstorganisation von Systemen
Die größte Bedrohung kommender Generationen ist das
Fortbestehen der Institution Krieg.
Leben: egoistische Gene oder Arterhaltung?
Teufelskreise ohne Entkommen
Kooperation aus Egoismus
Kooperation unter Verwandten
Ameisen: Weltherrscher durch Verwandtenkooperation
Konkurrenz und Kooperation ergänzen einander
Krieg bei sozialen Insekten
Kooperation aus Einsicht?
Das Handicap-Prinzip
Hilfe für Nichtverwandte als kostspieliges Signal für
gute Erbanlagen
Der Drang, etwas zu bewirken
Kooperation durch Gruppenselektion
Sammler und Jäger - Kooperation als Produkt
kultureller Evolution
Frühe ökologische Katastrophen
Landwirtschaft
Endemischer Krieg
Krieg und Tribut
Schrift und Arbeitsteilung
Geld und Sklaven – Die Tücken des Markts
Industriekapitalismus – Explosion der Produktivität
und Kampf um Märkte
Vom Kapitalismus zurück zum Tributstaat
Markt, Plan und Gartenbau
Endlich die Früchte genießen
Kooperation versus freier Wettbewerb
Souveränität der Politik über die Wirtschaft
Demokratie und der Trittbrettfahrer-Effekt
Gemeinde, Staat oder Weltregierung?
Zusammenfassung
Literatur
Im Verlauf ihrer Entwicklung hat die Menschheit es
gelernt, immer größere und konzentriertere Top Energiemengen zu bündeln
und zur Umsetzung menschlicher Absichten einzusetzen. Spätestens seit der
Entwicklung der Atomwaffen sind diese Energiemengen so groß, dass die
Menschheit in Stand gesetzt ist, sich selbst auszulöschen. Dass die
Massenvernichtungsmittel nicht zum Einsatz kommen, darf wohl als
Grundvoraussetzung dafür angenommen werden, dass es zukünftige
Generationen überhaupt geben wird. Die Abschaffung des Kriegs ist das
erste, was künftige Generationen von uns zu fordern das Recht haben. Aber
auch der gewaltige Energieumsatz der Menschheit in anderen Formen, von den
fossilen Brennstoffen, Riesenstaudämmen und Atomkraftwerken angefangen
bis zu Hochleistungsgetreidesorten und Kunstdünger erweist sich immer
mehr als problematisch.
In den Hunderttausenden von Jahren, in denen sich die
Menschheit entwickelte und über die Erde ausbreitete, hat sich ihr
Energieumsatz zunächst nicht von dem anderer fleischfressenden Säugetiere
unterschieden. Erst mit dem Übergang zur Landwirtschaft vor ca. 10.000
Jahren begann die Epoche, in der der Energieumsatz der Menschheit, und
damit die Produktivität der menschlichen Arbeit, ihre umweltverändernde
Kraft, exponentiell zunahm bis zum Erreichen der Selbstvernichtungsfähigkeit.
Es ist im Grunde diese Steigerung der Fähigkeit, die Umwelt zu
beeinflussen und zu verändern, schlicht die Steigerung des
Energiedurchsatzes, was landläufig mit dem Wort Fortschritt bezeichnet
wird. Dieser Fortschritt ist nicht einfach eine technologische
Entwicklung, bei der jeweils ein kluger Kopf eine Erfindung macht auf der
Basis der Erfindungen vorangegangener kluger Köpfe. Der Fortschritt
beruht in erster Linie auf einem Prozess der Konzentration der physischen
und geistigen Kräfte von immer mehr Menschen. Erst durch diese
Konzentration der Kräfte wurde es möglich, diese Erfindungen zu machen
und in die Praxis umzusetzen. Diese Konzentration der Kräfte wurde in der
Epoche der Zivilisation, also den 10.000 Jahren seit dem Übergang zur
Landwirtschaft, in der Hauptsache durch Krieg, Unterwerfung und Ausbeutung
herbeigeführt.[1]
Dass dieser Fortschritt nun bis zur realen Möglichkeit der
Selbstvernichtung geführt hat, zeigt auf, wo seine Grenzen liegen.
Natürlich interessieren uns diese Erscheinungen als
Probleme der menschlichen Gesellschaft. Um ihre Wurzeln zu ergründen,
wird hier die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als ein
Spezialfall der Selbstorganisation von Systemen betrachtet.
Das Paradigma der Selbstorganisation ist
interessanterweise in sehr unterschiedlichen Kreisen beliebt. Verfechter
des Neoliberalismus etwa vertrauen auf die Selbstorganisation des Marktes,
die die Produktion und Verteilung der Güter aufs Beste regeln soll.
Globalisierungsgegner wiederum vertrauen auf die Selbstorganisation der
Bewegung, die zentrale Leitung unnötig macht. Beide sind davon
fasziniert, dass die Selbstorganisation tatsächlich funktionierende
Systeme hervorbringt. Das ist unbestreitbar auf der Ebene der
Selbstorganisation der Materie, der Selbstorganisation des Lebens
(biologische Evolution), der Selbstorganisation der Gesellschaft
(kulturelle Evolution), der Selbstorganisation der Wirtschaft (Markt).
Dass die Selbstorganisation funktionierende Systeme hervorbringt, heißt
aber noch lange nicht, dass sie auch - wie manche anzunehmen scheinen –
die besten aller möglichen System hervorbringt.
Hier soll aufgezeigt werden, dass Selbstorganisation
ein widersprüchlicher Prozess ist:
Selbstorganisierende Systeme organisieren sich nicht
mit einem bestimmten Ziel. Selbstorganisierende Systeme organisieren sich
nicht widerspruchsfrei und schmerzlos, sondern unter Krämpfen und
Katastrophen. Selbstorganisierende Systeme nehmen keine Rücksicht auf die
Elemente, aus denen sie bestehen. Selbstorganisation kann auch in die
Selbstzerstörung des Systems münden.
Dass in diesem Artikel viel von der biologischen
Evolution die Rede ist, hat zwei Gründe. Einerseits dienen Prozesse der
biologischen Evolution als Beispiele für allgemeine Gesetzmäßigkeiten
der Selbstorganisation. Andererseits hat die biologische Evolution uns
Menschen hervorgebracht mit unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten, also
die Voraussetzungen für unsere kulturelle Evolution geschaffen.
Der Hauptteil des Artikels legt dar, wie die
menschliche Gesellschaft sich von egalitären, statischen, territorialen
Gemeinschaften zu auf Ausbeutung beruhenden, dynamischen und
expansionistischen Imperien entwickelt hat. Die expansionistische Struktur
dieser Gesellschaften ist die Wurzel des Krieges, wie wir ihn heute
kennen, und die Produktion von Überschuss zwecks Erzeugung von noch mehr
Überschuss ist der Motor dieser Entwicklung.
Um der Gefahr der Selbstzerstörung durch Krieg
(oder auch durch Überausbeutung der Ressourcen) zu entgehen, müssen die
Menschen, so schwierig es sein mag, in die spontane Entwicklung des ihnen
übergeordneten Systems "Gesellschaft" eingreifen. Die
Produktion von Überschuss zur Erzeugung von noch mehr Überschuss muss
gestoppt werden. Der Autor ist der Meinung, dass eine radikal sozial und
ökologisch orientierte gelenkte Marktwirtschaft eine nicht-expansive
Gesellschaftsstruktur ermöglichen würde und so die Gefahr der
Selbstzerstörung der Menschheit durch Krieg und Raubbau an Ressourcen
minimieren würde.
Richard Dawkins prägte das Paradigma des „selbstsüchtigen
Gens“. (Dawkins 1989) DNS-Ketten verändern sich durch zufällige
Mutationen. Führt eine solche Mutation dazu, dass diese DNS es besser
versteht, Energie einzufangen, und weniger Energie bei der Verdopplung zu
verbrauchen, so wird die Mutante mehr Nachkommen haben als andere und die
Eigenschaft bleibt erhalten. Sollte eine DNS einmal dahingehend mutieren,
dass sie anders gebauten DNS-Ketten bei der Vermehrung hilft, so wird sie
solche DNS-Ketten vermehren helfen, die diese altruistische Eigenschaft
nicht besitzen, und dieser schöne Zug wird wieder untergehen. Da
Altruismus per Definitionem anderen DNS-Mustern zugute kommt, kann er sich
in einer Population nicht durchsetzen.
Den von Konrad Lorenz postulierten Arterhaltungstrieb
(Lorenz 1963) stellt Dawkins in Frage. Nicht das, was der Art nützt,
setzt sich durch, sondern das, was der Fortpflanzung des einzelnen
DNS-Musters nützt.
Ein Beispiel: Bei fast allen sich geschlechtlich
vermehrenden Arten gibt es ungefähr gleich viele Männchen wie Weibchen,
obwohl wenige Männchen ausreichen würden, alle Weibchen zu befruchten
und obwohl oft die Männchen nichts zur Brutpflege beitragen. Die Mehrzahl
der Männchen sind also vom Standpunkt der Art unnütze Fresser. Die Art könnte
den ihr potentiell zur Verfügung stehenden Lebensraum mit weniger Männchen
und mehr Weibchen schneller ausfüllen und eventuell konkurrierenden Arten
so zuvorkommen. Warum geschieht das nicht? Nehmen wir an, jedes Weibchen
bekommt zehn Junge. Nehmen wir weiters an, ein Männchen befruchtet zehn
Weibchen, und nur eines von zehn Männchen kommt überhaupt zur
Fortpflanzung. Dann könnte die Art sich viel schneller ausbreiten, wenn
nicht 50 % der Jungen Männchen wären, sondern nur 10%, und der Rest
Weibchen. Im Interesse der Art sollten die Weibchen also möglichst viele
Weibchen gebären. Nun wird ein Weibchen, das zehn Töchter gebiert,
hundert Enkel haben. Ein Weibchen, das zehn Söhne gebiert, von denen nur
einer sich fortpflanzt, dafür aber mit zehn Weibchen, wird aber ebenfalls
hundert Enkel haben. Die Eigenschaft, viele Töchter zu haben, hat keine
besseren Chancen, sich durchzusetzen, als die Eigenschaft, viele Söhne zu
haben. Daher muss die Art mit den unnützen Fressern leben, ob es ihr nun
nützt oder nicht.
Ein drastisches Beispiel bringen Wolfgang Wickler und
Uta Seibt (Wickler/Seibt 1977):
„Krähen nisten in Kolonien und bauen ihre Nester
mit Zweigen, die sie zusammentragen müssen. Hat in der Kolonie ein
Nestbau begonnen, dann sind die nächstliegenden Zweige dort zu
finden und werden auch von da geholt. An markierten Zweigen kann man
sehen, daß sie eine umständliche Reise durch die Kolonie machen; obwohl
schon einmal eingebaut, werden sie wieder weggenommen und woanders
eingebaut, dort wieder weggenommen usw. ... Ohne diese überflüssigen
Umschichtungen wäre das Nestbauen viel billiger und weniger zeitraubend.
Aber eine Krähe, die das Stehlen unterließe und nur neue Zweige herbeitrüge,
würde als einzige zuverlässige Material-Beschafferin von der ganzen
Kolonie ausgebeutet.“
Ein weiteres Beispiel: Wenn Löwenmännchen einen
Harem übernehmen, sind sie während der ersten drei Monate den Löwenjungen
gegenüber sehr aggressiv und töten sie fast immer. Erst später werden
sie zu fürsorglichen Vätern, die den Jungen gegenüber sogar duldsamer
sind als die Mütter. Der Grund dafür ist einfach: Im Durchschnitt
verlieren die Löwen den Harem nach zwei bis drei Jahren wieder an ihre
Nachfolger. Sie haben nur wenig Zeit, Junge zu zeugen. Trächtige oder säugende
Löwinnen kommen nicht in Brunst. Die Löwen töten also die Jungen ihrer
Vorgänger, damit die Löwinnen schnell wieder brünstig werden, also um
sich selbst Nachwuchs zu sichern (natürlich sind sie sich dessen nicht
bewusst). Für die Spezies der Löwen ist das sehr schlecht. Denn die
Sterblichkeit unter Löwenjungen ist sowieso sehr hoch, in der
ostafrikanischen Steppe bei ca. 80%. Ein Viertel verhungert, ein weiteres
Viertel verunglückt oder fällt Feinden zum Opfer. Die Löwen können
unter diesen Bedingungen ihre Zahl gerade konstant halten. Taucht ein
neuer Feind auf, wie zum Beispiel der Mensch, ist der Bestand ihrer Art
hochgradig gefährdet. Die Löwen täten also im Interesse kommender
Generationen gut daran, den Kindermord abzuschaffen. Doch das können sie
nicht. Ein Löwenmännchen, das durch Mutation die Eigenschaft erhalten würde,
zu den Jungen der Vorgänger genauso gutmütig zu sein wie zu den eigenen,
hätte kaum die Chance, überhaupt eigenen Nachwuchs zu bekommen, vor
allem nicht eigene Söhne, denen es seine Gutmütigkeit vererben könnte.
Die Löwen stecken in einem Teufelskreis, dem sie ebenso wenig entkommen können
wie die Krähen. Indem jedes Löwenmännchen seinen eigenen Nachwuchs fördert,
trägt es dazu bei, den Nachwuchs aller Löwenmännchen, also letztlich
auch den eigenen, zu verringern (Wickler/Seibt 1977).
Solche Teufelskreise sind in der Natur keine
Ausnahme, man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt. Die Evolution der Gene
nimmt keine Rücksicht auf das Wohlergehen der Art. Sie nimmt auch keine Rücksicht
auf das Wohlergehen der Individuen, so paradox das vielleicht im ersten
Augenblick klingt. Aber wäre ohne Schmerzempfinden unser Leben nicht glücklicher
– wenn auch kurz? Zu kurz vermutlich, als dass wir uns überhaupt
fortpflanzen könnten. Individuen ohne Schmerzempfindung werden äußerst
rasch hinwegselegiert.
Der Fortgang der Evolution ließ Einzeller sich zu
Vielzellern zusammenschließen. Die Zellen büßten dabei sowohl ihre
potentielle Unsterblichkeit als auch ihre Unabhängigkeit und
Vielseitigkeit ein, wurden aus individuellen Jägern zu austauschbaren
Fließbandarbeitern, die nur einen winzigen Teil des Lebensprozesses bewältigten
und alleine überhaupt nicht mehr lebensfähig waren. Und der
Gesamtorganismus, der nun als Individuum auftrat, war nun ebenso
todgeweiht wie die ihn konstituierenden Zellen. Das Privileg der
potentiellen Unsterblichkeit behielten allein die Fortpflanzungszellen.[2]
Wie können nun in dieser grausamen Welt Kooperation
und Solidarität entstehen?
Erklärungen gibt es auf mehreren Ebenen: Einfache
Kooperation kann aus purer Selbstsucht entstehen: Kühe auf der Weide
streben bei Gefahr zueinander. Für jede Kuh gilt: Je näher sie an
anderen Kühen steht, umso kleiner wird ihr Gefahrenbereich und umso größer
die Chance, dass eine der anderen Kühe angegriffen wird. Indem jede Kuh
versucht, auf Kosten der anderen zu überleben, erhöhen sich die Überlebenschancen
für alle, denn ein Raubtier greift nur ungern eine geschlossene Gruppe
an. Die Kühe könnten also mit Recht sagen: „Wenn jede für sich selbst
sorgt, dann ist für alle gesorgt“, während das für das Beispiel der
Krähen und der Löwen sicher nicht zutrifft.
Antilopenweibchen leben in großen Herden und
synchronisieren ihre Gebärzeiten. Ihre Jungen erscheinen dann
gleichzeitig und in großer Anzahl, und das einzelne ist im Fall eines räuberischen
Angriffs weniger gefährdet.
Schon etwas komplexer ist das Verhalten des Warnens:
Viele Vögel, die in Gruppen oder Schwärmen leben, stoßen, wenn sie
einen Feind erblicken, einen Warnruf aus. Das ist erstaunlich, denn der
Warner lenkt die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich und gefährdet sich
dadurch. Allerdings würde der Warner sich durch eine isolierte Flucht
noch mehr gefährden. Besser ist es, den ganzen Schwarm aufzuscheuchen und
im Schutz des Schwarms zu fliehen. (Wickler/Seibt 1977)
Verhaltensweisen, die der Gruppe nützen, können
sich also dann durchsetzen, wenn sie auch unmittelbar einen
Fortpflanzungsvorteil für das Individuum bedeuten.
Wenn allerdings das altruistische Verhalten die
Fortpflanzung von Verwandten fördert, dann besteht die Chance, dass auch
diese Verwandten über den altruistischen Zug verfügen. Wenn bei mir ein
altruistischer Zug vorliegt, beträgt die Chance z.B. ¼, dass er auch bei
meiner Nichte vorliegt. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Verwandten kann
sich dann durchsetzen, wenn ihr Nutzen für die Verwandten entsprechend größer
ist als die Einbuße, die der eigene Nachwuchs dadurch erleidet.
(Wickler/Seibt 1977)
Die eindrucksvollsten Ergebnisse zeitigt die
Verwandtenkooperation bei den Ameisen. Bei den Ameisen schlüpfen aus
befruchteten Eiern Weibchen (fruchtbare Königinnen oder unfruchtbare
Arbeiterinnen), aus unbefruchteten Eiern Männchen. Alle
Ameisengeschwister bekommen vom Vater den gleichen Chromosomensatz, also
identische Gene. Von der Mutter bekommen sie ein jeweils zufälliges
Gemisch der großmütterlichen und großväterlichen Gene. Daher teilen
Ameisenschwestern im Schnitt nicht 50% der Gene, sondern 75%. Jedes
Verhaltensmerkmal, das die eigene Mutter beziehungsweise ihren Nachwuchs fördert,
hat also besonders große Chancen, damit auch wiederum Trägerinnen dieses
Verhaltensmerkmals zu fördern. So erklärt sich, dass
Ameisen-Arbeiterinnen zugunsten einer kleinen Anzahl fruchtbarer
Schwestern auf eigenen Nachwuchs verzichten. Das macht es möglich, dass
die Schwestern verschiedene Arbeiten im Stock untereinander aufteilen. Ein
Teil dieser Arbeitsteilung ist altersbedingt, das heißt Arbeiterinnen
machen in der Jugend Innendienst und übernehmen am Ende des Lebens den
gefährlichen Außendienst. Aber sie können auch für verschiedene
Dienste unterschiedliche Körperformen entwickeln, die sie für andere
Dienste untauglich machen, z.B. als besonders große Soldatinnen oder als
Vorratstöpfe für die Schwestern. Am bizarrsten ist vielleicht das
Verhalten der Camponotus-Ameisen in Malaysia, die man als lebende Bomben
bezeichnen könnte: Zwei große Drüsen mit giftigem Sekret laufen von
ihren Kauwerkzeugen bis zum Ende ihres Hinterleibs. Wenn die Ameisen im
Kampf gegen feindliche Ameisen oder einen Fressfeind in Bedrängnis
geraten, ziehen sie ihre Hinterleibsmuskeln gewaltsam zusammen, sodass
ihre Körperwände aufgesprengt werden und sich das Gift plötzlich auf
den Feind ergießt. Zugunsten des Stocks das Leben zu opfern ist für die
Ameisen kein großes Problem, und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen
finden sich bei vielen Arten.
Die Ameisenkolonie wird oft als Superorganismus
bezeichnet, weil sich die Individuen wie Organe eines größeren
Superindividuums verhalten. Das macht ihren großen Erfolg aus. Von
750.000 bekannten Insektenspezies sind 13.500 Spezies staatenbildend. 9500
davon sind Ameisen, der Rest sind Termiten und soziale Bienen und Wespen.
Doch diese 2% aller Insektenspezies machen 50% der Biomasse aller Insekten
aus! Warum? Hölldobler und Wilson führen folgendes Argument an: Man
stelle sich 100 einzeln lebende Wespen (Ameisen stammen von Wespen ab)
neben einer Kolonie von 100 Ameisen vor. Jede Wespenmutter muss ein Nest
graben, ein Beutetier fangen und eintragen, ein Ei darauf legen und das
Nest verschließen. Wenn sie bei einer einzigen dieser Arbeiten versagt,
waren auch alle anderen Arbeiten vergebens. Die Ameisen teilen die
Arbeiten auf Spezialistinnen auf. Wenn eine versagt oder gefressen wird,
springt eine andere ein. Der Erfolg ist nahezu garantiert. Im Kampf können
die Ameisen-Soldatinnen draufgängerisch bis zum Selbstmord sein. Eine
Wespenmutter sollte sich auf einen Kampf nur einlassen, wenn sie ihn
gewinnen kann, Kamikaze-Aktionen stehen sowieso außer Frage. Selbst wenn
bis zum Ausfliegen der jungen Ameisenköniginnen von den 100 Ameisen 99
ihr Leben lassen müssen, werden die ausfliegenden Schwestern den Verlust
mehr als ausgleichen, die Arbeit der 99 wird nicht verloren sein. Wenn 99
Wespenmütter ihr Leben lassen, bevor sie ihren Nachwuchs bis zum Ende
versorgt haben, wird nur die Arbeit der letzten überlebenden nicht
verloren sein. „Es scheint, dass Sozialismus unter bestimmten
Bedingungen wirklich funktioniert“, schreiben Hölldobler und Wilson.
„Karl Marx hatte nur die falsche Spezies.“ (Hölldobler/Wilson 1994)
Die Weiterentwicklung der Arten, die immer weiter
gehende Differenzierung des Lebens wird also durch Konkurrenz
vorangetrieben, Konkurrenz innerhalb der Arten und zwischen den Arten.
Doch diese Konkurrenz bringt auf vielen Ebenen Kooperation hervor, und
kooperative Spezies wie die Ameisen und – wie wir sehen werden – die
Menschen, gehen als „Sieger“ aus dieser Konkurrenz hervor.
Bei all ihrer Eignung zur Kooperation kennen auch die
Ameisen Konkurrenz und Kampf. Vor allem zwischen verschiedenen Spezies und
auch zwischen den Kolonien ein und derselben Spezies herrscht oft
erbarmungsloser Krieg. „Wenn Ameisen Nuklearwaffen hätten, würden sie
wahrscheinlich innerhalb einer Woche das Ende der Welt herbeiführen“.
(Hölldobler/Wilson 1994)
Warum ist unter Ameisen Krieg die Regel, und zwar,
wie Hölldobler/Wilson es beschreiben, gekennzeichnet durch „rastlose
Aggression, territoriale Eroberung und völkermörderische Auslöschung
benachbarter Kolonien wann immer möglich“?
Für die folgenden Überlegungen sind nicht Hölldobler/Wilson
verantwortlich sondern ich allein:
1) Ameisenkolonien können zwar nicht unbegrenzt
wachsen, aber die Spanne zwischen der kleinstmöglichen noch
funktionierenden Kolonie und der größtmöglichen ist enorm, kann das
Hundertfache, Tausendfache oder noch mehr betragen. Kaum eine
Ameisenkolonie erreicht tatsächlich die theoretisch mögliche größte
Ausdehnung. Praktisch jede Kolonie könnte also ein noch größeres
Territorium brauchen. Auch bei einem Singvogelpärchen hängt die Größe
der Brut, die es aufziehen kann, bis zu einem gewissen Grad von der Größe
des Territoriums ab, das dem Pärchen zur Verfügung steht. Aber es gibt
ein maximales Territorium, das das Pärchen überhaupt
"bewirtschaften" kann, und jede Gebietseroberung darüber hinaus
hätte keinen Sinn. Für die Ameisen aber gilt, dass eine Kolonie, die
nicht auf unbegrenztes Wachstum aus wäre, der maßlosen Mutante gegenüber
ins Hintertreffen geraten muss. Desgleichen eine Kolonie, die ihr
Territorium nicht mit Mandibeln und Klauen verteidigt.
2) Ameisenkolonien können sich das Kriegführen
leisten. Sie können es sich leisten, weil sie, wie schon oben ausgeführt,
die Fortpflanzung an ihre königlichen Schwestern delegieren. Einzeln
lebende Wespen oder Singvogelpärchen oder andere territoriale Tiere können
sich eine tödliche Niederlage nicht erlauben. Jede Fortpflanzungschance wäre
dahin. Sobald eine Niederlage abzusehen ist, ist Flucht die bessere
Alternative, denn dann besteht immer noch die Chance, ein unbesetztes
Territorium zu finden oder einen schwächeren Konkurrenten, den man
vertreiben kann. Für eine Ameisenkolonie kann ein Krieg sich auch dann
lohnen, wenn Tausende auf dem Schlachtfeld sterben.
Unter den Ameisen gibt es also Krieg, weil er sich für
sie unter den besonderen Umständen, unter denen sie leben, besonders
lohnt. Im Gegensatz zum bloß territorialen Singvogelpärchen ist die
Ameisenkolonie von ihrer Struktur her expansiv. Dieser Unterschied
wird uns später bei der Behandlung menschlicher Gesellschaften
interessieren.
Menschliche Gesellschaften bestehen nun keineswegs
nur aus engen Verwandten. Kommt Kooperation unter nicht eng verwandten
Menschen also nur trotz der biologischen Veranlagung zum Egoismus vor?
Dawkins scheint dieser Meinung zu sein: „Seien Sie gewarnt, dass, wenn
Sie, wie ich, wünschen eine Gesellschaft zu errichten, in der Individuen
großzügig und selbstlos für das Gemeinwohl tätig sind, Sie wenig Hilfe
von unserer biologischen Natur erwarten dürfen.“ (Dawkins 1989)
Wie es scheint, gibt es aber doch Hilfe von unserer
biologischen Natur. Um das darzulegen, ist es allerdings nötig, ein wenig
auszuholen. Vergegenwärtigt man sich, wie stark der Druck der Selektion
durch die Umwelt die Lebewesen drängt, möglichst viel Energie zu
gewinnen und sie möglichst sparsam auszugeben, dann muss einem eine ganze
Klasse von Erscheinungen in der Natur äußerst merkwürdig vorkommen. Das
Männchen des Argusfasans hat so übermäßig lange Schwanzfedern, dass es
fast schon flugunfähig ist. (Riedl 2000) Warum werden die Federn immer länger,
warum bevorzugt die Evolution nicht Männchen mit kürzeren Schwanzfedern?
Warum wurde das Geweih des Riesenelchs so breit und schwer, dass es höchstwahrscheinlich
das Aussterben dieser Art verursachte? Warum entwickelten sich die Eckzähne
des Säbelzahntigers so unmäßig, dass auch diese Art vom Antlitz der
Erde verschwunden ist? Der Biologe Amotz Zahavi stellte Anfang der 70er
Jahre eine Theorie auf, die er das Handicap-Prinzip nannte. Ein
Paradiesvogel, der trotz fast ein Meter langen Schwanzfedern überlebt,
muss ein besonders kräftiger Flieger sein, besonders gut darin sein,
Raubfeinden zu entkommen, Futter zu finden, Krankheiten abzuwehren etc.
Wenn ein Weibchen auf Grund einer Mutation Gefallen an Männchen mit
besonders langen Schwanzfedern findet, wird es automatisch besonders gute
Flieger etc. als Nachkommen haben und ihnen, wenn weiblich, die Vorliebe für
lange Schwanzfedern vererben. Viele sexuelle Werbesignale der Männchen
sind solche Behinderungen. Männchen verzichten in der Zeit der Werbung
auf Tarnfärbung und entwickeln auffallend bunte Signalfarben. Sie führen
aufwändige Werbetänze vor, machen sich durch lauten Gesang auffallend.
Indem sie sich selbst Behinderungen auferlegen, demonstrieren sie ihren Kräfteüberschuss.
(Zahavi 1975)
Auch beim Menschenwesen finden sich eine Fülle von
selbstschädigenden Verhaltensweisen, die sich durch Zahavis
Handikap-Prinzip erklären lassen. Tätowierungen und Schmucknarben
beispielweise sind ein Beweis, dass ihr Träger oder ihre Trägerin
Schmerzen ertragen können und über ein gutes Immunsystem verfügen. Das
Trinken von Alkohol gehört zu dieser Art von Signalen oder das Rauchen
von Tabak, das Trinken von Kerosin bei Kung-Fu-Kämpfern oder die Sitte
der männlichen Einwohner der Pazifik-Insel Malekula, hohe Türme zu
errichten und dann von einem Seil am Fuß gehalten herabzuspringen, so
dass das Seil den Sturz abfängt, kurz bevor der Wagemutige mit dem Kopf
auf den Boden prallt. „Wer den Sturz übersteht, hat bewiesen, dass er
Mut besitzt, richtig rechnen kann und ein guter Baumeister ist“. (Zahavi
1975)
Was hat Zahavis Handikap-Prinzip nun mit Kooperation
zu tun? Jane Goodall berichtete, dass im Gegensatz zu anderen Tieren
Schimpansen gelegentlich Nahrung miteinander teilen, und zwar Fleisch häufiger
als anderes Futter. (Goodall 1990) Fleisch ist für Schimpansen zwar eine
wertvolle Nahrung, aber kein lebensnotwendiger Nahrungsbestandteil, eher
eine seltene Delikatesse. Warum also behalten erfolgreiche Jäger diese
seltene und nur mit großer Ausdauer und Geschicklichkeit zu erlangende
Delikatesse nicht für sich?
Auch in menschlichen Sammler- und Jäger-Kulturen ist
es hauptsächlich Fleisch, was geteilt wird. Pflanzennahrung sammelt ein
jedes für sich oder für die Familie. Bei den Hadza in Ostafrika wird
auch nur Großwild auf die ganze Gruppe aufgeteilt. Großwildjagd bringt
zwar gelegentlich große Mengen Fleisch, ist aber riskant und unverlässlich.
Die verlässlichere Strategie ist die Jagd auf Kleinwild. Mit ein paar
erlegten Hasen oder Vögeln kann „mann“ freilich nicht so gut seine Stärke
und Gewandtheit beweisen wie mit einem erlegten Büffel. Der Zweck der männlichen
Großwildjagd ist also in erster Linie die Demonstration überschüssiger
Kraft. (Key/Aiello 1999) Dabei geht es nicht um die subjektive Motivation
des Jägers, also was er sich dabei denkt oder was er dabei fühlt,
sondern um die objektive Funktion als Signal. Der Jäger mag nur das Wohl
seiner Gruppe im Sinn haben und an Statusgewinn keinen Gedanken
verschwenden. Dennoch haben erfolgreiche Jäger hohen Status und werden
von Frauen bewundert, bekommen mehr Nachkommen und können ihnen ihre
Gruppenfürsorglichkeit vererben.
Wenn die Umweltselektion also auf ökonomischen
Energieeinsatz und Maximierung des persönlichen Fortpflanzungserfolgs
hinarbeitet, so kann die sexuelle Selektion im direkten Gegensatz dazu auf
demonstrative Energieverschwendung hinarbeiten – und nichts anderes ist
die Unterstützung von Nichtverwandten vom Gesichtspunkt des selbstsüchtigen
Gens aus. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt,
dass das selbstsüchtige Gen die Energieverschwendung beim anderen
Geschlecht provoziert, damit seine eigene
"Fortpflanzungsmaschine" Energie sparen kann.
Aber es muss auch noch einmal betont werden, dass
diese sexuelle Selektion zu demonstrativen Kraftverschwendung zu einem
Teufelskreis führen kann, der in Selbstzerstörung mündet, ähnlich wie
andere Ausprägungen innerartlicher Selektion (Kindsmord beim Löwen).
Beim Säbelzahntiger und beim Riesenelch hat sie, wie schon angedeutet,
zum Aussterben dieser Arten geführt.
Nun ist das Menschenwesen von allen Tieren das mit
dem flexibelsten Verhalten, das am wenigsten instinktgebundene. Doch dass
menschliches Verhalten durch individuelle Erfahrungen und kulturelle
Normen gesteuert ist, heißt nicht, dass das Menschenwesen von seinen
Instinkten frei wäre. Noch immer zwingt der Hunger es zu essen. Aber die
Art, wie es sich das Essen verschafft, ist ihm, im Gegensatz zu weniger
komplexen Tieren, nicht angeboren.
Analog zum Fresstrieb darf man annehmen, dass dem
Menschen kein spezifisches Programm angeboren ist, um das andere
Geschlecht zu beeindrucken. Der Instinkt schreibt dem Menschenwesen nicht
vor: Lass dich tätowieren! Geh auf Großwildjagd! oder: Stürz dich an
einem Seil in die Tiefe.
Erich Fromm hat in seiner Auseinandersetzung mit
Konrad Lorenz über die menschliche Aggression von den menschlichen
Leidenschaften gesprochen. Er hat in seiner klinischen Tätigkeit als
Psychotherapeut festgestellt, dass dem Menschen ein tiefer Drang
innewohnt, etwas zu bewirken, eine Spur in der Welt zu hinterlassen.
„Wirken zu können bedeutet, dass man aktiv ist und nicht nur andere auf
uns einwirken, dass wir aktiv und nicht nur passiv sind. Letzten Endes
beweist es, dass wir sind. Man kann dieses Prinzip auch so formulieren:
Ich bin, weil ich etwas bewirke.“ (Fromm 1973)
„Auch der Erwachsene hat das Bedürfnis sich
selbst zu beweisen, dass er fähig ist, eine Wirkung auszuüben. Es gibt
mannigfache Möglichkeiten, sich dieses Gefühl zu verschaffen: man kann
im Säugling, der gestillt wird, einen Ausdruck der Befriedigung
hervorrufen, im geliebten Menschen ein Lächeln, im Sexualpartner eine
Reaktion, man kann im Gesprächspartner Interesse wecken. Das gleiche kann
man durch materielle, intellektuelle oder künstlerische Arbeit erreichen.
Aber man kann dasselbe Bedürfnis auch befriedigen, indem man über andere
Macht gewinnt, indem man ihre Angst miterlebt, indem der Mörder die
Todesangst auf dem Gesicht seines Opfers beobachtet, indem man ein Land
erobert, indem man Menschen quält, und einfach dadurch, dass man zerstört,
was andere aufgebaut haben.“
Das allgemein gehaltene Programm „Bewirke etwas!“
kann sich also kreativ oder destruktiv auswirken.
Als demonstrative Energieverschwendung lassen sich
viele menschliche Verhaltensweisen deuten, die unter dem Gesichtspunkt der
Umweltselektion und der Selbstsucht des Gens keinen Sinn ergeben. Das
reicht von den vielfältigen, den Anthropologen gut bekannten Formen der
Selbstverstümmelung (Tätowierung, Beschneidung, Ausbrechen von Zähnen,
Vergrößerung von Ohrläppchen, Lippen, Hals) bis zur Kopfjagd und zum
Menschenopfer. Das reicht vom Aufteilen der Jagdbeute bis zum Potlatch,
dem Verschenkfest der amerikanischen Ureinwohner.
Dieser angeborene Hang zur demonstrativen
Energieverschwendung ist die biologische Voraussetzung, die die rasante
Entwicklung unterschiedlichster menschlicher Kulturen mit ihren Blüten
und ihren Auswüchsen als Motor angetrieben hat. (Siehe Dunbar 1999) Es
genügt uns nicht, das Lebensnotwendige zu tun, wir wollen darüber hinaus
gehen, uns „selbstverwirklichen“, unsere „Fähigkeiten entfalten“.
Dass wir das wollen, ist uns angeboren, wie wir das tun, hängt davon ab,
welche Möglichkeiten uns die Umstände bieten, sowohl die physischen als
auch die gesellschaftlichen.
Nimmt man einem Menschenwesen die Möglichkeit,
diesen Drang, etwas zu bewirken, auf positive, kreative Weise auszuleben,
so besteht sein einziger Ausweg darin, diesen Drang auf destruktive Weise
auszuleben.
Für die Kultur des Krieges bedeutsam ist, dass sich
dieser Drang eben auch im Streben nach Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld
niederschlagen kann. Zwar findet die männermordende Schlacht oft weit
entfernt von den daheimgelassenen Frauen statt, doch wenn der Kriegsheld
aus der Schlacht zurückkehrt, ist ihm die Gunst der Frauen gewiss. Helden
à la Alexander der Große oder Napoleon, Lenin oder Mao Zedong konnten
sowohl die kreative als auch die destruktive Seite des Drangs, etwas zu
bewirken ausleben: Sich die Liebe des eigenen Volkes, der eigenen Armee
erwerben, und beim Feind Hass und Angst hervorrufen, töten und
brandschatzen und ein Weltreich schaffen, die politischen Verhältnisse
ordnen, das Leben von Millionen in neue Bahnen lenken.
Von Natur aus ist das Menschenwesen weder
kriegerisch noch friedlich. Ihm ist ein Drang, etwas zu bewirken,
angeboren, der sich kreativ oder destruktiv manifestieren kann. Die
destruktive Manifestation dieses Drangs ist eine Voraussetzung, die Krieg
ermöglicht, aber nicht verursacht. Es hängt von der Struktur der
Gesellschaft ab, welche Ausprägung dieses Drangs Individuen erfolgreich
sein lässt, welche also in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschend
wird.
Die klassische Soziobiologie hat uns vorgerechnet,
dass Kooperation nur entstehen kann, wenn sie dem kooperierenden
Individuum einen unmittelbaren Fortpflanzungsvorteil bringt. „Echter“
Altruismus, wenn er durch Mutation entsteht, muss immer wieder aussterben.
1998 zeigten Elliot Sober und David Sloane Wilson auf, dass diese
Rechnung nicht immer stimmen muss. (Sober E. and Wilson D.S., 1998) Sie
stellen das Modell von zwei Gruppen auf, die miteinander konkurrieren.
Wenn die eine Gruppe viele Altruisten enthält, die mehr auf das Wohl der
Gruppe bedacht sind als auf das eigene und das ihres Nachwuchses, die
andere aber nur wenige, so wird die erste Gruppe sich schneller vermehren
als die zweite. Das führt dazu, dass der Anteil der Altruisten an der
Gesamtzahl der beiden Gruppen zunimmt. Da die guten Dienste der Altruisten
aber auch den Egoisten der eigenen Gruppe zugute kommen, die nichts an die
Gruppe zurückgeben, werden diese sich jeweils schneller vermehren als die
Altruisten. Der Anteil der Altruisten innerhalb jeder Gruppe wird also
notwendig abnehmen. Bleiben die beiden Gruppen getrennt voneinander, müssen
die Altruisten in beiden Gruppen irgendwann aussterben, wie es die
klassische Soziobiologie vorhersagt. Kommt es aber, solange die Altruisten
an der Gesamtzahl gemessen sich noch auf dem aufsteigenden Ast der Kurve
befinden, zur Vermischung der beiden Gruppen und zu einer neuerlichen
Aufspaltung, so kann der Prozess mit einem insgesamt höheren
Altruisten-Anteil von vorne beginnen. Obwohl die Altruisten also immer in
Gefahr sind, dass von ihren Anstrengungen die Trittbrettfahrer
profitieren, kann unter diesen Voraussetzungen ihr Anteil in der
Population zunehmen.
Ein extremes Beispiel macht das deutlich: Stellen wir
uns einen Stamm vor, der sich immer wieder in kleine Jagdgruppen aufteilt,
die gefährliche Tiere, sagen wir, Mammuts, jagen. Schon ein einziger
Trittbrettfahrer kann seine ganze Gruppe dem Verderben preisgeben – und
damit sich selbst. In solchen Situationen, wo die Gruppe auf Gedeih und
Verderb auf einander, also auf Kooperation angewiesen ist, ist es klar,
dass Trittbrettfahrer sich selbst immer wieder ausrotten (zusammen mit
ihren Gruppenkollegen).
Es gibt also Konstellationen, unter denen
Trittbrettfahrer auf Kosten der anderen gedeihen können, und
Konstellationen, unter denen sie sich selbst vernichten.
Doch das mathematische Modell erlaubt auch für nicht
sofort tödliche Situationen die Entstehung von angeborener
Kooperationsbereitschaft zugunsten der Gruppe. Voraussetzung dafür ist
allerdings, dass die Gruppen immer wieder durchmischt werden und -
dass sie zueinander in Konkurrenz stehen! Es ist also wieder die
Konkurrenz, die die Kooperation hervorbringt.
Wir Menschen – und, wie sich zeigt, einige andere
Tierarten auch – vererben aber unser Eigenschaften nicht nur auf dem
genetischen Weg, sondern auch durch unsere Fähigkeit, von einander zu
lernen und mittels Beispiel, Gestik und Sprache Informationen
weiterzugeben. Erlernte vorteilhafte Verhaltensweisen können sich viel
schneller verbreiten als angeborene, die kulturelle Evolution verläuft
auf einer viel kleinteiligeren Zeitskala als die biologische.
Die schon beim Schimpansen festgestellte und daher
vermutlich auch bei unseren gemeinsamen Vorfahren vorhandenen Neigung,
Fleischnahrung zu teilen war wohl eine der Voraussetzungen dafür, dass
unsere Vorfahren sich von einer hauptsächlich auf Pflanzenkost beruhenden
Lebensweise umstellen konnten auf eine, in der Fleisch eine wichtigere
Rolle spielte. Doch stellt die Jagd als Existenzgrundlage viel höhere
Anforderungen an die Kooperationsbereitschaft als ein auf Pflanzenkost
basierendes Leben mit gelegentlicher Fleischergänzung. Und zwar nicht nur
an die Kooperationswilligkeit bei der Erbeutung der Nahrung, sondern auch
an die Bereitschaft zu teilen bei ihrem Verzehr. Denn die Nahrung der Jäger
kommt im Gegensatz zu der der Schimpansen nicht in kleinen, relativ
gleichmäßig in Zeit und Raum verteilten Häppchen, sondern in großen,
seltenen Happen. Geht man davon aus, dass unsere frühen Vorfahren in
einer ähnlich hierarchisch strukturierten Gesellschaft gelebt haben wie
die Schimpansen, so muss irgendwann im Paläolithikum eine Revolution
stattgefunden haben, die zu der egalitären Lebensweise menschlicher
Sammler- und Jägergemeinschaften geführt hat. In seinem Buch
„Hierarchy in the Forest“ stellt Christopher Boehm diese These auf
(Boehm 1999). Boehm zeigt, dass die historischen Sammler- und Jägervölker
einerseits praktisch durchwegs egalitär waren und sind. Das heißt, dass
sie entweder gar keine Führer oder nur sehr schwache Führer dulden, dass
sie ein starkes Gruppenethos haben, das vom Einzelnen verlangt, zurückhaltend,
bescheiden, großzügig und hilfsbereit zu sein, und dass sie
ausgearbeitete und wirksame Systeme für die Verteilung von Jagdbeute
haben. Dass andererseits aber diese Jäger nicht bloß aus angeborener,
"natürlicher" Gutmütigkeit teilen. Dass sie nicht auf
Gleichheit achten, weil sie sich gleich fühlen oder keinerlei Bestreben hätten,
sich über andere zu setzen. Boehm spricht von einer "umgekehrten
Hierarchie", bei der das vereinte Fußvolk über die Alpha-Individuen
dominiert. Boehms Theorie ist, dass unsere Vorfahren "egalitäre
Politik" entwickelt hätten, um sich gegen die Dominanz durch die
Alphas durchzusetzen. Denn es ist klar: je größer meine Gruppe, desto größer
die Wahrscheinlichkeit, dass ich zu den Dominierten gehöre, und desto
geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ich selber zur dominierenden
Position gelange. So erklärt sich die Motivation, sich gegen das
Alpha-Individuum zusammenzuschließen. Erhalten und verbreiten kann sich
diese egalitäre Politik, weil sie der Gruppe eine bessere, weil gleichmäßigere
Nahrungsversorgung garantiert.
Interessanterweise berufen sich Boehm und
Sober/Wilson aufeinander und gehen, jedenfalls in den genannten Werken,
nicht darauf ein, dass sich ihre Thesen in gewisser Weise widersprechen:
Wird die Kooperation durch Politik erzwungen, wie in Boehms These, tragen
geborene Altruisten nicht mehr zum Wohl der Gruppe bei als geborene
Egoisten, die zur Kooperation gezwungen werden. Der biologischen Evolution
des Altruismus ist also durch die kulturelle Evolution der Boden entzogen.[3]
Die heute noch existierenden Sammler- und Jägergesellschaften
werden von den Anthropologen als egalitär und demokratisch beschrieben.
Es gibt kaum Eigentumsunterschiede, da es überhaupt kaum Eigentum gibt.
Das persönliche Eigentum eines durchschnittlichen Buschmanns wiegt gerade
einmal 12 kg. Schließlich muss man mobil sein. (Haviland 1997) Typisch für
den demokratischen Geist die Geschichte, die Turnbull von den BaMbuti
(Pygmäen) erzählt: Als Sefu, ein ewiger Unruhestifter und Quertreiber
sich als Häuptling bezeichnet, sagen die anderen sinngemäß: Ja so, dann
musst du also ein Bantu sein, denn bei uns BaMbuti gibt es keine Häuptlinge.
(Turnbull 1961) Entscheidungen werden nicht nach formalen Regeln – wie
etwa Abstimmung und Mehrheitsentscheidung – getroffen, sondern es wird solange
palavert, bis sich ein Vorgehen herauskristallisiert, mit dem alle leben können.
Gejagt wird gemeinschaftlich und auch individuell (bei den BaMbuti nehmen
an der Treibjagd auch Frauen und Kinder teil), die große Jagdbeute wird
aufgeteilt. Die Gruppen bestehen aus mehreren Familien, ihre Größe
bleibt meist unter 100 Individuen. Familien wechseln frei von einer Gruppe
zur anderen. Gruppen haben ihre angestammten Jagdgründe, die sich an den
Rändern mit denen anderer Gruppen überschneiden. Krieg gehört nicht zu
den ständigen Institutionen einer Sammler- und Jägergesellschaft.
Sammler- und Jägergesellschaften haben nur ein sehr langsames Bevölkerungswachstum.
Die Frauen stillen die Kinder sehr lange und oft, was dazu führt, dass
sie erst Jahre nach einer Geburt wieder empfängnisbereit werden. Für
Sammler- und Jägergruppen gibt es eine optimale Größe, die nicht über-
oder unterschritten werden sollte. Im Verhältnis dazu gibt es auch eine
optimale Größe für das Jagdgebiet, und es gibt keine Veranlassung, es
vergrößern zu wollen. Man dringt höchstens einmal in ein fremdes
Jagdgebiet ein, um dort eine besondere Delikatesse zu stehlen. Da andere
Gruppen keine Nahrungsvorräte oder sonst großartige Besitztümer haben,
gibt es auch keinen Grund, sie auszurauben. Probleme kann es geben, wenn
eine Gruppe zu groß wird und sich teilen muss. In einer solchen Situation
kann es zu Verdrängungskämpfen kommen. Turnbull schildert eine
Konfrontation, bei der eine fremde Gruppe in das Jagdgebiet der von ihm
untersuchten Gruppe eindrang, um Honig wilder Bienen zu stehlen. Die
„Schlacht“ bestand im Wesentlichen aus wütendem Geschrei, Drohgebärden
und ein paar Faustschlägen.[4]
Da also nur wenige Situationen denkbar sind, in denen
kriegerische Auseinandersetzung einer Sammlerinnen- und Jägergruppe überhaupt
einen Vorteil bringen könnte, da sich solche Gruppen größere Verluste
durch solche Auseinandersetzungen auch gar nicht leisten können, und da
die Befunde bei noch existierenden Sammler- und Jägerkulturen ihren
friedlichen Charakter bestätigen[5], dürfen wir davon ausgehen,
dass durch Tausende Jahrhunderte vor dem Übergang zur Landwirtschaft
Krieg im Leben der Menschen eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein muss.
Die Evolution der Menschen von pflanzenfressenden
Baumbewohnern zu sammelnden und jagenden Zweibeinern hat in Afrika
stattgefunden. In dem Maß, wie die Menschen zu immer effizienteren, gefährlicheren
Jägern wurden, konnten ihre Beutetiere die entsprechenden
Fluchtreaktionen ausbilden. Auch als die Menschen langsam nach Europa und
Asien vordrangen, fanden sie dort Tierpopulationen vor, die genetisch
nicht völlig getrennt von ihren Verwandten in Afrika waren. Als die
Menschen aber vor 40.000 bis 30.000 Jahren den australischen Kontinent
betraten, und vor etwa 12.000 Jahren den amerikanischen, stießen sie dort
auf große Säugetiere, die sich über Jahrmillionen ohne Gefährdung
durch Menschen entwickelt hatten. Das Aussterben dieser großen Säugetierarten
fällt, soweit es mit heutigen archäologischen Methoden festzustellen
ist, zeitlich sehr genau mit dem Auftauchen der Menschen auf diesen
Kontinenten zusammen. Aus historischer Zeit sind genügend Fälle bekannt,
wo Seefahrer auf Inseln Tiere fanden, die keinerlei Scheu vor den ihnen
unbekannten Menschen zeigten. Sie konnten mit einem Knüppel auf sie
zugehen, sie erschlagen und braten. Binnen kurzer Zeit war zum Beispiel
der berühmte Dodo ausgerottet. Es steht auch fest, dass die Maori, als
sie Neuseeland besiedelten, in kurzer Zeit den Moa, einen flugunfähigen
Großvogel, als hervorragenden Fleischlieferanten ausrotteten.
Wissenschaftler wie Jared Diamond gehen davon aus, dass die erste
Besiedelung Australiens und der beiden Amerikas jeweils eine gewaltige ökologische
Katastrophe war (Diamond 1992). Das Szenario muss man sich so vorstellen,
dass die Menschen mit ihren Speeren, Keulen und Steinen sich zunächst auf
Grund des ungeheuren, leicht zu erlangenden Nahrungsangebots gewaltig
vermehrten und rasch über die Kontinente ausbreiteten, und in relativ
kurzer Zeit, möglicherweise nicht mehr als tausend Jahren, feststellen
mussten, dass sie sich ihrer eigenen Existenzgrundlage beraubt hatten. Mit
abnehmendem Nahrungsangebot werden sie ihre Jagdmethoden noch verfeinert
und verbessert und so den Zusammenbruch noch beschleunigt haben. Und schon
lange bevor das letzte Riesenkänguru, das letzte Riesenfaultier
abgeschlachtet war, müssen Gruppen um eben diese letzten noch nicht
vernichteten Ressourcen gewaltsam konkurriert haben. Man kann noch weiter
spekulieren und vermuten, dass Gruppen, die es in klimatisch wenig begünstigte
und nicht so wildreiche Gegenden verschlagen hatte, einen sorglicheren
Umgang mit den Ressourcen entwickelten (oder beibehielten), und dass nach
dem Zusammenbruch der Neuanfang von diesen Gruppen ausging.
Die große Menschheitskatastrophe hat also höchstwahrscheinlich
schon mehr als einmal stattgefunden. Wenn sie für die amerikanischen
Kontinente und Australien auch noch umstritten ist, so ist sie zum
Beispiel für die Zivilisation der Osterinseln unzweifelhaft belegt. Dass
auch an diesen Orten menschliche Populationen überlebt haben, zeugt zwar
von der ungeheuren Anpassungsfähigkeit der menschlichen Spezies, ist aber
kein Grund für übertriebenen Optimismus in Bezug auf die Zukunft, wenn
man die der damaligen Menschheit zur Verfügung stehenden Energien mit den
heutigen vergleicht.
Mit dem Ende der letzten Eiszeit nahm nicht nur die
Durchschnittstemperatur zu, sondern auch die jahreszeitlichen
Unterschiede. In der Gegend des Jordantals, wo die ältesten Spuren von
Pflanzendomestikation festgestellt wurden, waren es vor allem Gräser und
Hülsenfrüchte, die sich den neuen Bedingungen anpassen konnten, während
andere verschwanden - und mit ihnen das Wild. Als einjährige Pflanzen
kamen sie mit der verkürzten Vegetationsperiode besser zurecht, und ihre
trockenen Samen konnten zwischen den Vegetationsperioden überdauern. Für
Sammler und Jäger waren das Pflanzen dritter Wahl gewesen, wenig ergiebig
und schwierig zu ernten im Vergleich zu Früchten, Nüssen, Wurzeln und
dergleichen. Auf Grassamen griff man nur in Notzeiten zurück. Solche
Notzeiten hatten jetzt begonnen.
Die landwirtschaftliche Lebensweise erforderte mehr
Arbeit und war unsicherer als die Lebensweise der Sammler und Jäger.
Sammler und Jäger nutzen Hunderte verschiedener Nahrungspflanzen,
Ackerbauern manchmal nur ein Dutzend. Dadurch wurde erstens die Nahrung
einseitiger und zweitens die Gefahr einer Katastrophe durch Ernteausfall
größer. Die Archäologen haben festgestellt, dass die frühen
Ackerbauern weitaus kleiner und kränker waren als ihre sammelnden und
jagenden Vorfahren. Durch das nahe Zusammenleben verbreiteten sich
Infektionskrankheiten unter Menschen wie Haustieren, und auch von den
Haustieren zu den Menschen. (Diamond 1992, Diamond 1998)
Ackerbauern brauchen freilich weniger Land pro Kopf.
Getreidebrei eignet sich gut als Babynahrung, daher konnten die Frauen früher
abstillen und wurden schneller wieder fruchtbar. Das begünstigte die
Zunahme der Bevölkerungsdichte, und das wiederum machte es noch
schwieriger, in Notzeiten auf Wildtiere und Wildpflanzen zurückzugreifen.
Die Landwirtschaft erwies sich als Falle. Ein Zurück zur Sammler- und Jägerlebensweise
war unmöglich geworden.
Es war keineswegs so, dass der Ackerbau von den
Nachbarn als großartige Erfindung begeistert aufgenommen und nachgeahmt
worden wäre. Er verbreitete sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit
von 1000 Metern pro Jahr. Warum aber hat er sich überhaupt ausgebreitet?
Bevölkerungszuwachs und immer wiederkehrende Hungersnot zwangen immer
wieder Menschen zur Auswanderung. Und die nahmen die landwirtschaftliche
Kultur mit.
Die Landwirtschaft war also keineswegs die
angenehmere, aber sie war die effizientere Lebensweise. Sie konnte mehr
Menschen auf weniger Fläche ernähren, daher musste sie auf Dauer die
wildbeutende Lebensweise verdrängen. Der Preis waren verkürzte
Lebenserwartung, Katastrophenanfälligkeit, Seuchen – und der Eintritt
der Arbeit in das Leben der Menschen. „Im Schweiße deines Angesichts
sollst du dein Brot essen!“ lautet der Fluch, mit dem Adam und Eva aus
dem Paradies einer Natur, die alles von sich aus gibt, vertrieben werden
und sich zu Ackerbauern wandeln müssen. Von keinem Jägervolk ist
bekannt, dass sie die Notwendigkeit zu jagen oder Früchte und Beeren zu
sammeln als Belastung empfunden hätten.
Parallel zu dieser Entwicklung begannen Jäger, die
Herden vor allem von Huftieren folgten, diese Herden aktiv zu managen. Die
nomadisierende Viehzucht entstand.
Frühe Ackerbaugesellschaften waren immer noch egalitär.
Die Funde zeigen keine nennenswerten Unterschiede zwischen Behausungen
oder Grabbeigaben. Das gemeinsam Land wurde wahrscheinlich gemeinsam
bearbeitet oder den Familien periodisch neu zugewiesen – darauf deuten
jedenfalls spätere Gebräuche hin. (Thomson 1941)
Frühe Bauerngemeinschaften scheinen auch nicht
kriegerisch gewesen zu sein. „Bei den neolithischen Ausgrabungen fällt
vielmehr das völlige Fehlen von Waffen auf, während es an Werkzeugen und
Töpfen nicht mangelt.“ (Mumford 1967) Die Mauern um das alte Jericho
wurden von der Wissenschaft zwar auch als Befestigungsanlagen gedeutet
(Keegan 1993), ihre Funktion war aber wahrscheinlich, die Stadt vor
Schlammfluten zu schützen. (Haviland 1997)
Nichtsdestoweniger steht fest, dass heute noch
existierende einfache Acker- oder Gartenbaukulturen den Krieg
praktizieren. Vielzitierte Beispiele sind die Maring in Neuguinea und die
Yanomamö im Amazonasgebiet (Harris 1974). Die Stammes- und Clankriege
dieser Kulturen wirken befremdlich, weil sie nur wenig gemeinsam haben mit
den Kriegen, die den Hauptinhalt unserer Geschichtsbücher ausmachen.
Vielleicht könnte man genau das zu ihrer Charakterisierung verwenden: Es
sind ahistorische Kriege, Kriege, die keine historischen Veränderungen
bewirken. Sie zeichnen sich weiters durch starke Ritualisierung aus und
durch ein starkes Element des Zweikampfs und der Blutrache.
Die Maring legen durch Brandrodung Gärten im Urwald
an und züchten Schweine. Sobald die Schweinepopulation ein gewisses Ausmaß
angenommen hat, wird es Zeit, ein großes Fest für die Verbündeten zu
geben, die mit Fleisch und Fett bewirtet werden, um das Bündnis zu
festigen. Gleichzeitig wird der Friedensbaum ausgerissen und den
verfeindeten Clans der Krieg erklärt. Eine Waldlichtung wird von beiden
Parteien abwechselnd gesäubert und als Kampfplatz hergerichtet. Zum
vereinbarten Termin ziehen die feindlichen Parteien singend und tanzend
zum Kampfplatz, rufen einander Beschimpfungen und Drohungen zu und schießen
aus der Deckung großer Schilde mit stumpfen Pfeilen aufeinander. Sobald
jemand ernsthaft verletzt wird, vermitteln mit beiden Seiten befreundete
Personen. Hier kann der Krieg enden. Wenn eine Seite auf weiterer Rache (für
in früheren Kriegen begangene Untaten) besteht, kommen Äxte und Stoßspeere
ins Spiel, die beiden Parteien rücken nun näher aufeinander zu. Nun kann
es sein, dass eine Seite losstürmt um der anderen tödliche Verluste
beizubringen. Sobald jemand getötet wird, wird ein Waffenstillstand
ausgehandelt. Nun gibt es ein oder zwei Tage Kampfpause für Begräbnisrituale
bzw. Dankopfer an die Ahnen. Dann kehrt man wieder auf den Kampfplatz zurück.
Zieht sich der Kampf in die Länge, werden die Verbündeten lustlos und
wollen nach Hause. Wird so eine Partei einseitig geschwächt, kann die
andere einen Sturmangriff versuchen und die schwächere Partei vom
Kampfplatz jagen. Die Unterlegenen fliehen dann in die Dörfer ihrer Verbündeten.
Die Sieger verfolgen sie nicht, sondern überfallen ihr Dorf, töten dort
eventuell vorgefundene Nachzügler, zünden Häuser und Vorräte an und
treiben die Schweine fort. In zwei Drittel aller Kriege kommt es zu einer
solchen Zerstörung. Nun pflanzen die Sieger den Friedensbaum und für
zehn bis zwölf Jahre herrscht wieder Waffenstillstand (Harris 1974).
Man kann sich vorstellen, dass das Leben im Hochland
von Neuguinea jahrhundertelang so weitergeht, ohne dass sich durch die
periodisch veranstalteten Kriege etwas Grundsätzliches ändert. Im
Gegenteil tragen diese Kriege zur Stabilität bei, indem sie das Wachstum
sowohl der Menschen- als auch der Schweinepopulation begrenzen und so eine
Überausbeutung des Waldes verhindern helfen. Wobei die
Wachstumsbegrenzung nicht durch die Verluste in der Schlacht bewirkt
werden – Männer sind ersetzbar – sondern weil eine kriegerische
Gesellschaft dazu tendiert, weiblichen Nachwuchs aktiv (durch Kindsmord)
oder durch Vernachlässigung zu reduzieren. Die Sieger besetzen nicht
direkt das Land der Besiegten, doch die Besiegten suchen Unterschlupf bei
verbündeten Clans und meiden ebenfalls ihre alten Gärten, so dass diese
über Jahre unbebaut bleiben und das Land sich erholt. Nach Jahren kehren
entweder die Besiegten zurück oder die Sieger nehmen nach und nach das
Land in Besitz.
Periodische Neuverteilung des Lands und
Wachstumsbegrenzung sind aber Nebeneffekte dieser Art von Krieg. Dass der
Krieg immerhin in einem Drittel der Fälle endet, ohne dass eine Partei
den Versuch macht, die andere ernsthaft zu schädigen, macht deutlich,
dass das ritualisierte Kriegsspiel nicht bloß ein Vorspiel ist, sondern
um seiner selbst willen veranstaltet wird. Die Funktion dieses
„Null-Krieges“ („nothing-war“) ist wohl ziemlich eindeutig
demonstrative Kraftverschwendung. Verräterisches Indiz dafür ist die
Anwesenheit der Frauen auf dem Schlachtfeld. Dieser Teil des Kriegs könnte
auch durch ein Fußballmatch oder einen sonstigen sportlichen Wettkampf
ersetzt werden.
Der „sportliche“ Charakter des Krieges kommt z.B.
auch in einem seltsamen Brauch der Dakota zum Ausdruck: Besonders tapfere
Krieger stürzen sich in die Schlacht, nicht, um Feinde zu töten, sondern
sie nur mit einem speziellen Stab zu berühren. Jede Berührung ist ein
„Coup“ – ein Pluspunkt. Wer in der Schlacht viele Coups sammelt,
wird ebenso oder mehr geehrt als einer, der viele Feinde getötet hat.
Man kann diese und ähnliche Formen des endemischen
Krieges, wie Blutrache, Kopfjagd und dergleichen, so charakterisieren:
Diese Form des Kriegs existiert, weil kriegerisches Heldentum ein ebenso
gutes „kostspieliges Signal“ für gute Überlebensfähigkeit ist wie
viele andere. Frauen, die Kriegshelden sexy finden, haben ebenso gute
Chancen auf lebensfähigen Nachwuchs wie Frauen, die große Jäger sexy
finden. Napoleon Chagnons Untersuchungen scheinen zu belegen, dass
besonders aggressive Yanomamö-Männer mehr Nachkommen haben (Chagnon
1988). Diese Form des Kriegs existiert weiters, weil Ackerbauern bzw.
Gartenbauern ihn sich zumindest periodisch leisten können. Sie häufen Überschüsse
an, die ihnen das Kriegführen eine Zeitlang erlauben. Diese Form des
Kriegs kann sich schließlich halten, weil sie die Bevölkerungsdichte auf
einem ökologisch tragbaren Niveau begrenzt.
Diese stabilisierende Wirkung des endemischen Kriegs
kann man wie Marvin Harris als „ökologisch sinnvolle Anpassung“
werten, man kann sie aber genauso gut als kulturelle Stagnation deuten.
Die Maring investieren ihre Überschüsse in demonstrative Kräfteverschwendung,
anstatt sie, wie es anderswo geschehen ist, in kulturellen Fortschritt zu
investieren. Würde der Krieg ihr Bevölkerungswachstum nicht bremsen, müssten
sie Wege finden, die Produktivität ihrer Wirtschaft zu erhöhen, oder
auswandern, um Neuland zu kolonisieren, oder andere Methoden finden, das
Bevölkerungswachstum zu kontrollieren. Anpassung oder Teufelskreis –
das lässt sich nur vom Endergebnis her bewerten.
Eine gänzlich andere Dynamik entwickelte der Krieg
im Zweistromland und im Niltal, wo sich die ersten Ackerbaukulturen
entwickelt hatten. Lewis Mumford rekonstruiert die Entwicklung so, dass
die neolithische Ackerbaukultur mit der paläolithischen Jägerkultur
zusammenstieß. Jägergruppen entdeckten, dass die von den Ackerbauern
aufgehäuften Vorräte eine leicht zu erlangende Jagdbeute waren.[6]
Waren die Bauern erst genügend eingeschüchtert, konnte man sich die Raubüberfälle
sparen und den Bauern anbieten, sie gegen Leistung eines regelmäßigen
Tributs vor Raubüberfällen zu schützen. So entstanden zweierlei
Hierarchien. Einerseits setzten sich die Jäger über die Bauern.
Andererseits konnten die Anführer der Raubüberfälle ihre Position
institutionalisieren und sich zu Häuptlingen aufschwingen (Mumford 1966.
Vergleiche auch Keegan 1993).
Die Ausgrabungen zeigen, dass auch schon egalitäre,
unabhängige Bauerngemeinschaften ihre Überschüsse bis zu einem gewissen
Grand in die Verbesserung der Produktion investierten. Bewässerungsanlagen
im lokalen Maßstab wurden auch schon ohne Könige errichtet, eine gewisse
Arbeitsteilung war schon vorhanden, indem sich manche Dorfmitglieder auf
die Herstellung von Töpfen oder Werkzeugen spezialisierten. Doch unter
der Herrschaft der Kriegerhäuptlinge konnte eine ganz andere Dynamik
entstehen: Kriegerhäuptlinge können den Überschuss von mehreren Dörfern
abschöpfen. Je mehr Dörfer sie beherrschen, umso mehr Überschuss können
sie im Zentrum konzentrieren. Sie können den Überschuss aber nicht nur
extensiv, sondern auch intensiv vermehren, indem sie die Dörfler zwingen,
sich für ihren täglichen Bedarf mit weniger zufrieden zu geben, als sie
es freiwillig täten. Einen Teil dieser Überschüsse werden die Krieger
einfach verprassen. Doch einen Teil können sie auch in Steigerung der
Arbeitsproduktivität, z.B. Bewässerungen investieren, um in späteren
Jahren noch mehr Überschüsse an sich ziehen zu können. Den größten
Teil werden sie in die Verbesserung ihrer militärischen Effizienz
investieren, in Waffen und Befestigungen. Doch auch dadurch tragen sie auf
längere Sicht zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität bei. Sie können
Spezialisten beschäftigen, die von der landwirtschaftlichen Tätigkeit
befreit sind und sich ganz der Perfektionierung ihres Handwerks widmen.
Erfindungen aus dem militärischen Komplex kommen später auch dem zivilen
Bereich zugute, so wie auch heute noch die Teflonbeschichtung für
Bratpfannen aus der militärischen Raumfahrt kommt. So beginnt sich das
Rad des Fortschritts zu drehen.
War unter Sammlerinnen und Jägern der Krieg eine
vereinzelte Ausnahme, unter Hortikulturalisten endemisch aber statisch, so
wird der Krieg der kombinierten Krieger-Bauern-Gesellschaft maßlos.
Denn der Tributstaat ist noch expansionistischer als
die Ameisenkolonie. Für den Kriegerfürsten bedeutet mehr Land mehr
tributpflichtige Bauern, mehr Tribut bedeutet mehr Krieger, mehr
Verwaltungsbeamte, mehr Priester und mehr Spezialisten für
Waffenherstellung, für die Herstellung von Luxusgütern, für die
Errichtung von Palästen und Tempeln. Und all das wird wieder in militärische
Macht umgesetzt und benutzt, um noch mehr Land zu erobern und noch mehr
Bauern tributpflichtig zu machen. Bleiben dann noch Überschüsse, kann
sie der König in demonstrative Verschwendung investieren, wie zum
Beispiel den Bau von Pyramiden. Dazu steht der Kriegerfürst bald in
Konkurrenz zu benachbarten Kriegerfürsten, deren Expansionsdrang ebenso
maßlos ist. Im Kampf der Nachbarfürstentümer werden die Territorien der
Besiegten denen der Sieger einverleibt, noch mehr Tribut kann beim Häuptling,
der nun zum König wird, konzentriert werden. So entsteht schließlich das
Imperium. Der Ausdehnung des Imperiums sind wohl technische Grenzen
gesetzt - zum Beispiel durch die vorhandenen Kommunikations- und
Transporttechniken oder durch geografische Umstände - aber keine
prinzipiellen.
Form und Ziele des Kriegs werden also nicht durch
die psychologische Grundausstattung des Menschenwesens bestimmt, auch
nicht durch einfache Größen wie Bevölkerungsdichte und Bevölkerungswachstum,
sondern durch die innere Struktur der Gesellschaft. Nur eine auf
Ausbeutung beruhende Gesellschaft kann und wird auch notwendig
expansionistisch sein.
Mit der Entstehung des Krieger-Bauernkomplexes in der
Jungsteinzeit beginnt ein Prozess positiver Rückkopplung, der binnen
10.000 Jahren die Produktivität menschlicher Arbeit bis auf das heutige
Maß gesteigert hat: Stehen sich zwei Reiche gegenüber, so wird dasjenige
siegen und sich das andere einverleiben, dessen Bevölkerung den höheren
in militärische Macht umsetzbaren Überschuss hervorbringt.
(Beziehungsweise werden solche erfolgreiche Kulturen zu Vorbildern, nach
denen sich benachbarte Kulturen modeln.)
Nicht diejenige Kultur setzt sich durch, die ihren
Mitgliedern die höhere Lebensqualität bietet, sondern diejenige, die
effizienter produziert. Das war für die ganze Epoche der Zivilisation
bestimmend. Die auf harter Arbeit beruhende, das Leben verkürzende
Ackerbauerngesellschaft hat die lustbetontere, mehr Sicherheit gewährende
Sammlerinnen- und Jägergesellschaft verdrängt. Der auf Unterwerfung und
Ausbeutung beruhende Tributstaat hat sich die egalitären Bauern- und
Nomaden-Stämme einverleibt.
Schon früh in der Epoche der Zivilisation hat der
mesopotamisch-ägyptische Komplex zwei wesentliche Elemente zur
Konzentration des Überschusses hervorgebracht: Die Schrift und die
extreme Arbeitsteilung. Die Schrift wurde in Mesopotamien zur Aufzeichnung
von Abgaben entwickelt, ein unschätzbares Mittel, um das Einziehen und
Verteilen des Tributs zu kontrollieren. Die Schrift bringt die Befehle des
Zentrums bis an die entlegensten Grenzen des Reichs und die Informationen
aus dem Reich wieder ins Zentrum. Die Schrift ermöglicht die Entstehung
der Bürokratie, die den Zusammenhalt des Reichs gewährleistet.
Die ägyptische Bürokratie entwickelte Meisterschaft
nicht nur in der Verwaltung des Arbeitsprodukts, sondern auch in der
Organisation der Arbeit. Das Grundmuster war dasselbe bei
Bergbauexpeditionen wie bei Eroberungszügen und beim Pyramidenbau und hat
sich in der Organisation der Armeen bis in unsere Zeit erhalten. „Grundeinheit
war die Abteilung unter der Aufsicht eines Gruppenführers. Selbst in den
Ländereien der reichen Grundbesitzer des alten Reiches herrschte diese
Struktur vor. Erman zufolge formierten sich die Abteilungen zu Kompanien,
die unter eigenem Banner marschierten oder paradierten. An der Spitze
jeder Arbeiterkompanie stand ein Vorarbeiter, der den Titel Kompaniechef
trug. Man kann ruhig behaupten, dass es in keinem frühneolithischen Dorf
je etwas Derartiges gegeben hat.“ (Mumford 1966)
„‚Der ägyptische Beamte’, bemerkt Erman,
‚kann diese Leute nur als Kollektiv sehen.; der individuelle Arbeiter
existiert für ihn ebenso wenig wie der individuelle Soldat für unsere höheren
Armeeoffiziere existiert.’“ (Erman 1894, zitiert nach Mumford 1966)
Lewis Mumford nennt diese Organisationsform die
Megamaschine. Sie beruht auf der Zerlegung des Arbeitsvorgangs in kleinstmögliche
Bestandteile, die mechanisch ausgeführt werden können. Voraussetzung für
die spätere Entwicklung mechanischer Maschinen.
Wie Kooperation Arbeitsteilung und Spezialisierung
zur Folge hat, haben wir also beim Zusammenschluss von Zellen zum
vielzelligen Organismus gesehen, wir haben es bei der Ameisenkolonie
gesehen und sehen es jetzt wieder bei der menschlichen Gesellschaft. Eine
einzelne Leberzelle ist weder lebensfähig noch hat sie eine
Daseinsberechtigung. Eine einzelne Ameise, herausgelöst aus dem Netzwerk
einander durch Düfte und Futtergaben steuernder Mitameisen, ist ein
leerlaufender Automat. Und der Mensch?
Der griechisch-römische Komplex entwickelte zwei
weitere Komponenten der Zivilisation, zwei wesentliche Elemente zur
Konzentration von Überschuss: Gemünztes Geld und die Sklaverei.
Arbeitsteilung erfordert die Verteilung der
produzierten Güter. Die Verteilung kann durch gemeinschaftlichen Konsum
geschehen, etwa in der Familie, oder der Jagdgruppe; durch unmittelbaren
Tausch zwischen den Produzenten (Eine Bronzehacke gegen einen Scheffel
Korn); durch organisierte Umverteilung, etwa wenn der Pharao Tribut und
Steuern in Form von Getreide einhebt und dieses an seine Beamten und
Spezialisten, seine Soldaten, Palastarbeiter und Arbeiter an öffentlichen
Bauten verteilt; und schließlich durch spezialisierte Händler und
Kaufleute.
Von all diesen Formen hat sich der Handel als die
flexibelste und effizienteste erwiesen. Der Handel erhöht die Produktivität
der Arbeit nicht in der Weise, wie eine Erfindung es tut, z.B. der eiserne
Pflug oder die Verwendung von Zugtieren. Aber der Handel ermöglicht
Arbeitsteilung im großen Stil, auch zwischen Produzenten, die einander
weder kennen noch unter einer gemeinsamen Autorität stehen. Der Handel
ermöglicht, dass Individuen das produzieren, was sie mit dem geringsten
Arbeitsaufwand und dem höchsten Ertrag produzieren können. Aber nicht
nur Individuen, auch ganze Regionen können sich auf diese Weise
spezialisieren. So wird in dem gesamten durch Handel verbundenen Gebiet
die Menge der Arbeitsprodukte und damit auch die Menge des Überschusses
erhöht. Der Vorteil für den einzelnen Handelspartner liegt also nicht
sosehr darin, dass er etwas bekommt, was er sonst gar nicht haben könnte,
sondern dass er für sein Produkt, das ihn eine bestimmte Anzahl
Arbeitstage gekostet hat, eines bekommt, das er selbst nur mit einem größeren
Aufwand an Arbeit hätte herstellen können. Der griechische
Olivenpflanzer kann für eine halbe Jahresernte Olivenöl soviel Getreide
aus Ägypten bekommen, wie er auf seinem eigenen Grund, hätte er ihn mit
Getreide bebaut, nur in einem ganzen Jahr hätte ernten können. Der ägyptische
Getreidepflanzer kann mittels Bewässerung zweimal im Jahr Getreide
ernten, während Ölfrüchte ihm nur eine Ernte geben würden. So steigern
beide, Olivenbauer und Getreidepflanzer ihre Effektivität, wenn sie ihre
Produkte tauschen. Die Gesamtmenge an produziertem Getreide und Olivenöl
ist höher, als wenn jeder beides produziert hätte. (Realistischer wird
das Beispiel, wenn man statt einzelner Handelspartner Regionen einsetzt,
die miteinander tauschen.) Und es hängt vom Geschick des Händlers ab,
der den Tausch vermittelt, wie viel von dem beiderseitigen Vorteil er für
sich selbst abzweigen kann. Er muss schließlich jedem der beiden
Produzenten nur soviel geben, dass der einen spürbaren Vorteil davon hat,
der ihm den Tausch noch lohnend erscheinen lässt. Den Rest kann er
einsacken, sofern das lohnende Geschäft nicht andere Händler anzieht,
die, um ihren Anteil am Markt zu bekommen, den Produzenten günstigere
Bedingungen bieten. Doch die seefahrenden Griechen hatten nur die Phönizier
als ernsthafte Konkurrenten und so konnte ein großer Teil des zusätzlich
geschaffenen Reichtums nach Griechenland transferiert werden. Die Überlegenheit
des Marktes über den Tributstaat zeigte sich in der siegreichen
Auseinandersetzung der Griechen mit den Persern.
Doch der Markt zeigte auch gleich seine Tücken. Der
griechische Getreidebauer wusste nicht, wie ihm geschah, als sein
Getreide infolge der ägyptischen und italienischen Konkurrenz immer
weniger wert wurde. Nicht er war es, der den Vorteil vom Handel hatte,
sondern sein Nachbar, der Olivenpflanzer. Dem Getreidebauern, dessen Vater
noch ein schönes Auskommen gehabt hatte, musste es wie das Eingreifen
einer höheren Macht erscheinen, dass ihm seine Arbeit, die er genauso
gewissenhaft leistete wie sein Vater früher, nicht mehr genug zum Leben
einbrachte und er schließlich sein Land verlor und wegen seiner Schulden
als Sklave verkauft wurde. Denn durch das billige Getreide, das an der Küste
auf den Markt kam, sanken auch im Landesinneren die Preise. Der Bauer
hatte noch immer dieselben Abnehmer wie früher, doch sie waren nicht mehr
bereit, soviel wie früher zu zahlen. Der Markt wurde ihm zum Schicksal,
dem gegenüber menschliches Tun machtlos war.
Der Olivenpflanzer, dem dasselbe undurchschaubare
Schicksal gewogen war und der seinen Besitz bald um das Land des
Getreidebauern vermehrt hatte, sah gerührt den Tragödien eines Sophokles
zu, in denen regelmäßig das Schicksal sich stärker erwies als
menschliches Planen und Trachten. Neben ihm saß der Sandalenmacher,
dessen Schicksal abhängig war vom Import italienischer Rinderhäute und
neben diesem der Zimmermann, dessen Aufträge vom Preis des Bauholzes aus
der nördlichen Ägäis abhingen, und neben dem wiederum der Weinbauer,
der heuer nicht weniger fleißig gewesen war und nicht weniger geerntet
hatte als letztes Jahr, und dem doch das extrem gute Weinjahr in Italien
zum Verhängnis werden konnte, ohne dass er die Ursache erfuhr.
Der Markt teilte den Menschen ihre Beschäftigung zu.
Was einer tat, bestimmten nicht mehr so sehr Tradition, familiäre
Verpflichtungen oder Stammesbindungen. Man tat das, wofür man am meisten
Geld bekommen konnte, ob man nun mit Wein handelte oder mit Sklaven oder
sich als Söldner einem fremden Herrscher verdingte.
Krieg war nicht – wie für den Tributstaat - das
primäre Instrument, um den Überschuss zu konzentrieren. Der Markt ermöglichte
die Konzentration und den Transfer der Überschüsse über Staatsgrenzen
hinweg. Doch der Krieg blieb nötig, um sich Konkurrenten vom Hals zu
schaffen – und um Sklaven zu erbeuten.
Sklaverei ist einerseits die extremste Form der
Ausbeutung bzw. Überschussaneignung. Aber da Sklaven keinerlei eigenes
Interesse an einer Steigerung ihres Outputs haben, nicht unbedingt die
effektivste.
In Rom hatte sich die folgende positive Rückkopplung
eingespielt: Die Erbeutung neuer Sklaven und ihr Einsatz auf den Landgütern
der Großgrundbesitzer ruinierte die freien Bauern. Denen bot sich als
Ausweg der Dienst in der Armee an. So konnten neue Gebiete erobert werden,
neue Sklaven erbeutet werden, noch mehr Bauern ruiniert werden, die
wiederum zur Vergrößerung der Armee zur Verfügung standen. Und die
waren auch nötig, denn um die wachsenden Staatsausgaben finanzieren zu können
mussten neue Eroberungen gemacht werden. Rom hat im Lauf seiner Geschichte
von den erbeuteten Überschüssen immer weniger in die Steigerung der
Produktivität und fast ausschließlich in Luxus und militärische Macht
investiert. Daran ist es letztlich zugrunde gegangen.
Das römische Reich ist das Beispiel einer positiven
Rückkopplung, die zur Selbstzerstörung des Systems führt.
Die Markt- und Geldwirtschaft in Europa hat mit dem
Untergang Roms einen schweren Rückschlag erlitten und siebenhundert Jahre
gebraucht, um sich zu erholen. An den Küsten Europas entstanden wieder
Handelsstaaten, wo das Kapital angesammelt wurde, das zur Entstehung der
bisher effektivsten Wirtschaftsform, was die Steigerung der Produktivität
anlangt, geführt hat, nämlich des Industriekapitalismus. Die Rechtsform
der Lohnarbeit ermöglicht es dem Besitzer der Produktionsmittel, sich das
Mehrprodukt der eigentlichen Produzenten anzueignen. Der sich stetig
ausweitende Handel schafft den Markt und damit den Konkurrenzdruck, der
den Unternehmer zwingt, den Großteil dieses Mehrprodukts in die
Steigerung der Produktivität und die Ausweitung der Produktion zu
investieren. Die Freiheit der Lohnarbeiter (im Gegensatz zu den an die
Scholle gefesselten Leibeigenen) ermöglicht es, sie nach den
Erfordernissen des Marktes von einem Produktionszweig in den anderen zu
verschieben. Die Konkurrenz unter den Lohnarbeitern, ständig verschärft
durch den Zustrom verarmter Bauern zur industriellen Reservearmee der
Arbeitslosen, zwingt sie, ihre Arbeitskraft billigst zu verkaufen. Die auf
Lohnarbeit beruhende Marktwirtschaft drängt also mehr als jede
vorhergehende Wirtschaftsform dazu, die Überschüsse der Gesellschaft in
die Erweiterung und Intensivierung der Produktion zu stecken. Der Konsum
der Massen wird auf das überlebensnotwendige Minimum reduziert, aber auch
der Konsum der Unternehmer wird in Grenzen gehalten, denn der Unternehmer,
der zuviel von dem Mehrprodukt in Luxus investiert, wird von der
Konkurrenz schnell überflügelt. Es wird produziert um des Produzierens
willen.
So erklärt sich das unglaubliche Tempo der
Industrialisierung im 19. Jahrhundert nicht bloß aus der Fülle
technischer Erfindungen, sondern in erster Linie aus der Struktur der
Produktionsweise, die nach technischen Neuerungen geradezu giert.
Der Kapitalismus ist noch weitaus expansionistischer
als der Tributstaat. Da jedes Unternehmen gezwungen ist, nach Möglichkeit
die Kosten zu senken, und zu diesen natürlich die Lohnkosten gehören,
geht die Tendenz immer dahin, dass zuwenig Kaufkraft für die produzierten
Konsumgüter vorhanden ist. Also muss exportiert werden. Zweitens sinken
sowohl aus technischen als auch aus organisatorischen Gründen die Stückkosten
um so mehr, in je größeren Stückzahlen produziert wird. Dazu gehören
Synergien in der Verwaltung, in der Entwicklung, in der
Rohstoffbeschaffung, im Transport. Selbst wenn die Aufnahmefähigkeit des
Marktes bekannt ist, wird mehr produziert als der Markt aufnehmen kann,
weil jedes Unternehmen hofft, seine Produktion auf Kosten der anderen
losschlagen zu können. So verläuft die kapitalistische Entwicklung immer
konvulsivisch, mit Perioden des Aufschwungs, in denen in Produktivitätssteigerung
investiert wird, und Perioden der Stockung und des Rückgangs,
hervorgerufen durch die Tatsache, dass die immense Produktivitätssteigerung
sich irgendwann in der Produktion von Konsumgütern niederschlagen muss,
die aber der Markt nicht aufnehmen kann. Ergebnis ist die Konkurrenz um Märkte.
Wurde früher um das Privileg gekämpft, die Produkte eines Landstrichs
wegzunehmen, so wird nun in absurder Umkehrung um das Privileg gekämpft,
einen Landstrich mit Gütern versorgen zu können.
Der Aufstieg Englands zum Weltreich war nicht zuletzt
den Profiten der British East India Company aus dem Textilhandel zu
danken. Im 19. Jahrhundert produzierte England die Hälfte aller
industriell gefertigten Baumwollstoffe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
waren in logischer Folge ¼ der Weltbevölkerung britische Untertanen.
Britische Kanonenboote zwangen Mitte des 19. Jahrhunderts China, seine Märkte
zu öffnen, amerikanische Japan. Der 1. und der 2. Weltkrieg waren Kämpfe
um Märkte. Am 9.9. 1914 erließ der deutsche Reichskanzler Bethmann
Hollweg die folgenden Kriegziel-Richtlinien: „...die Gründung eines
mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen,
unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn,
Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl
ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher
Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung,
muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa
stabilisieren.“
Aus der Denkschrift von Werner Daitz betreffend
„Die Errichtung eines Reichskommissariats für Großraumwirtschaft“
vom 31.5.1941: „Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen
wollen, ... so dürfen wir aus verständlichen Gründen diese nicht als
eine deutsche Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen
grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung
ergibt sich ganz von selber aus dem politischen, wirtschaftlichen,
kulturellen, technischen Schwergewicht und seiner geographischen Lage.“
Seit dem letzten Weltkrieg gab es wohl keine Kriege
zwischen Industrieländern. Doch unter den vier Ländern, die seither am häufigsten
Kriege geführt haben, finden sich neben Indien: Großbritannien, die USA
und Frankreich, drei hoch entwickelte Industriestaaten und
Musterdemokratien.
In manchen sogenannten Bürgerkriegen in Afrika
werden die sich bekämpfenden Warlords unmittelbar von konkurrierenden
multinational agierenden Konzernen finanziert. Ohne die Waffenexporte aus
den Industrieländern könnten diese Kriege auch nicht so blutig und
ausdauernd geführt werden. Doch in erster Linie muss man feststellen,
dass der wirtschaftliche Expansionismus der bereits entwickelten
Industrieländer die eigenständige wirtschaftliche Entwicklung der übrigen
Welt behindert und lähmt, und damit Armut und Chancenlosigkeit
zementiert. Es kann kein Zweifel bestehen, dass auch die ärmsten Länder
Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas eine Industrie auf die Beine stellen könnten,
die weitaus produktiver wäre als die europäische vor 100 Jahren. Auf
dieser Basis könnten sie die Produktivität schrittweise erhöhen, wie es
in Europa und den USA geschehen ist. Doch das ist nicht möglich, weil sie
auch im eigenen Land mit den Erzeugnissen der hochproduktiven Industrien
der entwickelten Länder konkurrieren müssten. Dafür fehlt natürlich
das Kapital. Alle Versuche der Drittweltländer, ihre Wirtschaft durch
Abschottungsmaßnahmen zu schützen, werden von der World Trade
Organisation, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds
torpediert. So wird Unterentwicklung, Armut und Chancenlosigkeit
zementiert, und das ist der Boden, auf dem Warlords gedeihen, die Banden
um sich scharen und um die wenigen verbleibenden Brocken raufen.
Doch wir sehen auch die Bildung dreier großer
Wirtschaftsblöcke, des amerikanischen, des europäischen, und des
ostasiatischen. Wenn die „emerging markets“ im ehemaligen Ostblock, in
China und einigen anderen Bereichen gesättigt sind – was dann? Nichts
garantiert, dass nicht aus Wirtschaftskriegen eines Tages wieder heiße
Kriege werden. Europa ist auf dem besten Weg, eine wirtschaftliche
Supermacht zu werden, und auch die militärische Aufrüstung zu einer
solchen ist schon im Gange. Eine militärische Konfrontation zwischen
Europa und den USA ist heute undenkbar. Aber undenkbar war vor 15 Jahren
die Aufnahme Polens in die NATO...
Marx wollte nicht bloß die Arbeiterklasse von der
Herrschaft der Kapitalisten, sondern die Menschheit von der Herrschaft der
Marktkräfte befreien, ihnen durch die Analyse der sozialen Mechanismen
die Möglichkeit geben, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Wo sich marxistische Parteien an die Spitze der Arbeiterbewegung setzten
und in ihrem Namen die Macht im Staat ergriffen, war das Ergebnis freilich
ein Rückfall in den Tributstaat. Auch in den kommunistischen Ländern war
nicht die Befriedigung der Bedürfnisse das Ziel, sondern die „Befreiung
der Produktivkräfte“. Unter der Parole „den Kapitalismus einholen und
überholen“ wurden Überschüsse nicht in die Verbesserung der
Lebensqualität investiert, sondern fast ausschließlich in Projekte, die
der Vermehrung der militärischen Macht und der Erhöhung der
Arbeitsproduktivität dienen sollten. Doch die Arbeitsproduktivität
steigern, das kann der Kapitalismus besser.[7]
Der Kommunismus konnte sich 70 Jahre lang halten, weil er in Wahrheit ein
höheres Mehrprodukt aus den Arbeitern presste als der Kapitalismus in den
Ländern Westeuropas und Amerikas, und einen größeren Teil dieses
Mehrprodukts in militärische Machtmittel investierte.[8]
Wenn es stimmt, dass Krieg, wie wir ihn heute
kennen, eine Folge der expansiven Struktur der zivilisierten
Gesellschaften von der Entstehung der ersten Tributstaaten bis heute
ist, dann ist die Folgerung daraus, dass nicht die Ableitung aggressiver
Triebe, wie sie von Lorenz und Eibl-Eibesfeldt vorgeschlagen wurde, uns
von Kriegsgefahr befreien kann; nicht die Erziehung der Jugend zu
friedlichen Idealen (so wünschenswert sie natürlich ist); nicht die
Erforschung und Verfeinerung von Konfliktlösungsstrategien (deren Wert
ebenfalls nicht geschmälert werden soll); sondern dass Krieg auf Dauer
nur vermieden werden kann, wenn die Gesellschaft in Richtung einer nicht
expansiven Struktur umgebaut wird.
Wie kann das geschehen? Die marxistischen Theoretiker
und die kommunistischen Potentaten meinten, sie könnten die spontane
Selbstorganisation des Marktes komplett beseitigen und durch rationale
Planung ersetzen.[9]
Eine Analogie dazu wäre der Versuch eines Züchters, eine neue
Rinderrasse oder auch nur eine neue Salatsorte aus den zwanzig Aminosäuren
zusammenzubauen. Nicht einmal im Zeitalter der Gentechnologie versteigt
sich jemand zu solchen Ideen. Dennoch überlassen menschliche Gärtner und
Züchter seit 10.000 Jahren die Entwicklung der Pflanzen und der Tiere
auch nicht einfach der spontanen Selbstorganisation, sondern helfen der
biologischen Evolution mehr oder weniger planmäßig und gezielt nach. Je
besser sie die Gesetzmäßigkeiten der Evolution durchschauen, um so eher
entsprechen die Ergebnisse ihren Vorstellungen. (Dass diese
Zielvorstellungen der Züchter und Gentechniker dann oft zweifelhaft sind,
einseitig nur auf Steigerung der Erträge ausgerichtet, ist ein anderes
Kapitel.)
Hat einerseits kommunistische Planung weit weniger
eingegriffen, als es den Vorstellungen der Theoretiker und Machthaber
entsprach, so ist andererseits die Marktwirtschaft selbst in den Ländern,
wo dem Neoliberalismus am begeistertsten gehuldigt wird, nicht völlig
frei. Die gelenkte Marktwirtschaft ist jenseits aller Ideologien eine
Tatsache. Bei Staatsquoten von 30 bis fast 50% des BNP ja auch gar nicht
anders denkbar. Die relevante Frage ist, mit welchen Zielen und mit
welchen Methoden man die Marktwirtschaft lenken will.
Was nottut, ist eine Abkehr von der Vermehrung der
Überschüsse zum Zweck der Vermehrung der Überschüsse.
Derartiges können die Marktmechanismen nicht bewältigen,
ebenso wenig wie die natürliche Evolution das Wachstum der
Argus-Fasan-Schwanzfedern umkehren kann. Menschlichen Züchtern dagegen
ist es ein leichtes, Hühnervögel mit langen oder kurzen, bunten oder
einfarbigen, geraden oder geschwungenen Schwanzfedern zu züchten, wobei
sie nicht gegen die Vererbungsgesetze, sondern mit ihnen arbeiten.
Soll die maßlose Ausweitung der Produktion zum Zweck
von noch mehr Produktion gestoppt werden, muss dafür gesorgt werden, dass
nur soviel vom Produkt der Gesellschaft in die Ausweitung der Produktion
investiert wird, wie wirklich im Interesse der Gesellschaft liegt, und der
andere Teil des Produkts von der Gesellschaft konsumiert werden kann.
Wenn die gegenwärtige Entwicklung weitergeht, sagen
die Wirtschaftsführer der Welt voraus, werden in naher Zukunft 20% der
arbeitsfähigen Bevölkerung genügen, um die Weltwirtschaft in Gang zu
halten. Die übrigen 80% wird man mit dem Notwendigsten an billiger
Massenware am Leben und mit industriell gefertigtem Entertainment bei
Laune halten. Oder aber es gelingt uns, das gegenwärtige
Wirtschaftssystem so zu verändern, dass die Menschen, endlich von der
Fron der Arbeit befreit, sich dem zuwenden können, was keine Maschine
ihnen abnehmen kann: der Fürsorge füreinander. Und das wäre
gleichzeitig die Voraussetzung für die Ablösung der Kultur des Kriegs
durch eine Kultur des Friedens.
Den Buschmännern in der Kalahari genügten drei Tage
in der Woche für die Jagd (Eibl-Eibesfeldt 1984). Sie wären nie auf die
Idee gekommen, die Hälfte der Männer sechs Tage lang jagen zu lassen und
die andere Hälfte für überflüssig zu erklären. Sie wären auch nicht
auf die Idee kommen, alle Männer sechs Tage in der Woche jagen zu lassen
und das überschüssige Fleisch gegen – ja, wogegen einzutauschen, wo
sie doch alles hatten, was sie brauchten? Die freie Zeit wurde für
soziale Aktivitäten genutzt.
Die freie Zeit, die uns jede Steigerung der
Produktivität der Arbeit bringt, sollten auch wir vor allem in soziale
Aktivitäten investieren anstatt in die weitere Ausweitung der Produktion[10].
Nicht einfach nur in Form von mehr „Freizeit“ – „Freizeit“ in
der modernen Industriegesellschaft bedeutet ja hauptsächlich leere Zeit
oder Konsumzeit. Sondern in dem Sinn, dass innerhalb der gesellschaftliche
Arbeitsteilung ein immer größerer Anteil den sozialen Dienstleistungen
zukommt. Damit ist gemeint der Bereich von Fürsorge, psychischer und
physischer Vorbeugung und Heilung, Training und Animation, Unterhaltung,
Kunst, Spiritualität, Lehre und Forschung. Nicht gemeint sind solche von
den Wirtschaftswissenschaften unter „Dienstleistungen“ subsumierten
Bereiche wie Gelddienste, Werbung, Verwaltung, Rechtsdienste und so
weiter, also Dienstleistungen, die in erster Linie die Warenproduktion
unterstützen.
Eine reiche Industriegesellschaft, die ihre Überschüsse
nicht in die Erweiterung der Produktion, sondern in die Erweiterung der
sozialen Dienstleistungen investierte, wäre eine nicht-expansive
Gesellschaft. Sie hätte nicht das Problem, ständig nach neuen Märkten
und neuen Formen des Konsums zu suchen, hätte daher auch keinen Bedarf an
Machtausweitung und weniger Probleme mit der Überausbeutung der irdischen
Ressourcen. Sie wäre keineswegs eine Verzichtsgesellschaft, sondern ganz
im Gegenteil eine Luxusgesellschaft. Denn der wahre Luxus ist nicht ein
Vibrationsmassagekissen mit vier Programmen und stufenloser Intensitätsregulierung,
sondern sich eine Stunde lang den lebendigen Händen eines einfühlsamen
Masseurs hinzugeben. Der wahre Luxus ist nicht ein
Vierkanal-Dolby-Surround-HiFi-System, sondern ein Kammerkonzert im Kreis
erlesener Freunde beziehungsweise ein Live-Act in hautnaher Club-Atmosphäre.
Die Marktmechanismen allein können einen solchen
Umschwung nicht bewirken. Industrieprodukte werden billiger in dem Maß,
wie weniger Arbeitsstunden nötig sind, um sie zu erzeugen. Die Leistung
eines Masseurs oder einer Therapeutin aber kann nicht durch
Rationalisierung verbilligt werden. Im Verhältnis zu Fernsehapparaten und
Leberwürsten wird sie immer teurer. Und da die Marktmechanismen dahin
tendieren, die Einkommen der Massen auf das Lebensnotwendigste zu drücken,
ist klar, dass in einer reichen Gesellschaft zwar qualifizierte persönliche
Dienstleistungen zunehmen würden, aber gleichzeitig immer mehr das
Privileg der obersten Einkommensklassen werden müssten.
Wer aber kann den Marktgesetzen trotzen? Das können
Kartelle und staatliche Institutionen. Auch Gewerkschaften sind Kartelle.
Starke Gewerkschaften haben der Entwicklung des Kapitalismus nicht
geschadet. Indem sie den Arbeitenden einen höheren Anteil am
Sozialprodukt verschafft haben, haben sie nicht zuletzt dafür gesorgt,
dass der Wirtschaft besser ernährte, gesündere und besser ausgebildete
Arbeitskräfte zur Verfügung standen, als geänderte Produktionsverhältnisse
danach verlangten. Die relative Verteuerung der Arbeitskraft hat die
Unternehmen zu um so rascherer Rationalisierung, also Produktivitätssteigerung
angestachelt, und der höhere Konsum der Massen hat eben auch für den
Absatz der Produkte gesorgt. Die Unternehmen befinden sich ja in der
paradoxen Situation, dass jedes Unternehmen im Grunde daran interessiert
sein muss, dass in der Bevölkerung genug Kaufkraft vorhanden ist, um die
Produkte aufzunehmen. Dennoch muss jedes einzelne Unternehmen bestrebt
sein, seine Kosten, also auch die Lohnkosten, zu senken.[11]
Das Kartell der Arbeitnehmer kann diesen Widerspruch auflösen. Denn überlebenswichtig
ist für das einzelne Unternehmen nur, dass es nicht höhere Kosten als
die Konkurrenzunternehmen hat. Wenn alle höhere Kosten haben, schadet das
dem einzelnen Unternehmen nicht. Ähnliches gilt für alle anderen
Faktoren, die die Kosten der Unternehmen zugunsten der Arbeitnehmer oder
zugunsten der Gesamtgesellschaft erhöhen, wie Vorschriften, die die
Arbeitsbedingungen betreffen, Umweltauflagen oder Qualitätsauflagen.
Konsumentenvereinigungen können die Konkurrenz unter
den Käufern einschränken.
Der Staat nimmt nicht nur durch Vorschriften, sondern
auch in seiner Eigenschaft als größter und wichtigster Konsument von
Dienstleistungen und Gütern Einfluss darauf, was und in welchen
Proportionen die Gesellschaft produziert, auch ohne Zentrale
Plankommission. Die Forderung geht dahin, dass der Staat durch Besteuerung
und entsprechende Vorschriften dahin wirkt, dass Produktivitätszuwächse
in der Güterproduktion nicht in erster Linie zur Ausweitung der
Produktion führen, sondern zur Umschichtung der menschlichen
Ressourcen auf soziale Bereiche.
Einfach gesagt: die Verbesserungen bei der
Erzeugung von Tomaten und Kühlschränken sollen künftig nicht dazu führen,
dass mehr Tomaten und Kühlschränke erzeugt werden, sondern dass weniger
Menschen in der Erzeugung von Tomaten und Kühlschränken beschäftigt
werden und stattdessen mehr ÄrztInnen, LehrerInnen, TennistrainerInnen,
SchauspielerInnen etc. mit Tomaten und Kühlschränken versorgt werden.
Es gibt wohl kaum noch ein Land auf der Welt, wo
nicht wenigstens nominell die Schulpflicht besteht. Die Bildung der Bevölkerung
den Marktgesetzen zu überlassen, bedeutet, dass Bildung ein Privileg der
höheren Einkommensschichten bleibt.
In den meisten Ländern Europas ist auch im
Gesundheitswesen die Konkurrenz unter Käufern und Verkäufern durch die
allgemeine Versicherungspflicht eingeschränkt. Die Versicherungspflicht
mit einkommensabhängigen Versicherungsbeiträgen in Verbindung mit einem
staatlich geförderten Gesundheitswesen bedeutet natürlich auch eine
Verringerung der Einkommensschere. Auch wer sich keine Villa im Grünen
leisten kann, kann sich eine Computertomographie leisten.
Dies nur als Beispiele für Bereiche, wo schon heute
breiter Konsens darüber besteht, dass man nicht alles den Marktgesetzen
überlassen kann. Schulpflicht und staatlich finanziertes Bildungswesen
lassen sich im Übrigen durchaus mit weitgehender Autonomie der
Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis zur Universität und freier
Wahl der Bildungseinrichtungen durch die Eltern bzw. Schüler/Studenten
verbinden. Eine radikale Sozialwirtschaft wird Bildung auch nicht bloß in
dem Maß zuteilen, wie sie für Beruf und Karriere benötigt wird, sondern
wird Bildung als einen Wert für sich und einen wesentlichen Bestandteil
der Lebensqualität ansehen; wird eine hohe Allgemeinbildung aller Bevölkerungsschichten
als eine Voraussetzung für informierte demokratische Entscheidungen
betrachten; und wird davon ausgehen dass Bildung eine, wenn auch
keineswegs die einzige, Voraussetzung für kreative Selbstverwirklichung
im Gegensatz zur destruktiven Selbstverwirklichung darstellt.
Ein weiterer Bereich, in den Produktivitätszuwächse
sinnvoll investiert werden kann, ist die Verbesserung der Qualität statt
der Quantität der Produkte, vor allem im Sinn von Umwelt- und Sozialverträglichkeit.
Ein Verbot der Massentierhaltung etwa würde der Überproduktion von
Fleisch sofort Einhalt gebieten. Natürlich würde sich Fleisch verteuern,
der Fleischkonsum würde auf ein gesünderes Maß zurückgehen. Untere
Einkommensschichten müssten zwar durch gewerkschaftliche Maßnahmen für
Ausgleich sorgen, wenn ihnen das nicht durch eine Anhebung der staatlich
verordneten Mindestlöhne abgenommen wird. Doch andererseits wäre
hochwertiges Fleisch dann nicht mehr ein Privileg der höheren
Einkommensschichten. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Viehzucht würde
sich etwas erhöhen, die Arbeitsplätze in den Schlachthöfen würden
freilich weniger werden. Weniger Fleischkonserven würden in Drittweltländer
exportiert werden und die dortige heimische Landwirtschaft könnte
aufatmen. Die Überschüsse, die sonst in eine weitere Konzentration und
Rationalisierung der Fleischproduktion mit noch größerer Überproduktion
investiert würden, müssen so in Qualitätsverbesserung, Humanität und
Gesundheit investiert werden.
Auf längere Sicht würden solche strenge und
strengste Qualitätsauflagen die Einkommensschere zwischen arm und reich
verringern. Wenn bestimmte Produkte nur mehr in höherer Qualität und
entsprechend teurer zur Verfügung stehen, können höhere
Einkommensschichten das ausgleichen, indem sie die Menge der verbrauchten
Produkte reduzieren. Die unteren Einkommensschichten verbrauchen bisher
eine gewisse Mindestmenge an Produkten schlechter Qualität. Wenn diese
Produkte nun nur mehr in guter Qualität zur Verfügung stehen, kann diese
Mindestmenge aber dennoch nicht weiter reduziert werden. Also müssen die
Mindesteinkommen angehoben werden, entweder durch staatliche Verordnung
oder durch gewerkschaftliche Maßnahmen.
Soziale und ökologische Mindeststandards für
Importe wären ebenfalls eine Form der Kooperation unter Konsumenten, die
der Konkurrenz um den billigsten Preis Schranken setzen würde und die
Kooperation der Arbeitnehmer besonders in den Entwicklungsländern
erleichtern und helfen würde, ihren Lebensstandard zu erhöhen,
Kinderarbeit abzuschaffen und so weiter. Für die etwas erhöhten Preise würden
wir eine Verringerung des Konfliktpotentials in der Welt erhalten, z.B.
eine Verringerung des Migrationsdrucks.
Eine radikal sozial und ökologisch orientierte
kontrollierte Marktwirtschaft, die nicht auf ständig wachsende Güterproduktion,
sondern auf wachsenden Konsum von sozialen Dienstleistungen ausgerichtet
ist, würde den Expansionsdrang unkontrollierter marktwirtschaftlicher
Entwicklung hemmen und so die Kriegsgefahr mindern.
Alle die schönen Projekte, die Konkurrenz unter
Arbeitnehmern, Konsumenten und Unternehmen einzuschränken und durch
Kooperation zu ergänzen, scheitern natürlich, wenn sie nicht den
gesamten Wirtschaftsraum betreffen. Um Projekte wie das eines radikalen
Sozialstaats durchzuführen, muss die Souveränität der Politik über die
Wirtschaft wiedergewonnen werden. Der Wirtschaftsraum und der politische
Raum müssen wieder zur Deckung gebracht werden. Eine Weltwirtschaft
erfordert eine Weltregierung. Das klingt erschreckend. Zu recht. Eine
demokratische Weltregierung ist kaum vorstellbar. Demokratie erfordert,
dass alle BürgerInnen die für die Entscheidungen notwendigen
Informationen erhalten. Das ist schon in einem kleinen Land wie Österreich
höchst problematisch, in einem Raum von der Größe der EU eigentlich
schon unmöglich.
Die Alternative dazu ist den Wirtschaftsraum zu
verkleinern. Das Streben nach Autarkie gilt als total überholtes Konzept,
höchstens für Kriegszeiten akzeptabel. In Kriegszeiten streben Staaten
danach, wirtschaftlich unabhängig zu sein, lösen Verflechtungen auf,
verzichten darauf, die billigsten Rohstoffe zu verwenden und ersetzen sie
durch teurere Ersatzstoffe, weil die durch wirtschaftliche Unabhängigkeit
erreichte militärische Beweglichkeit höher eingeschätzt wird. Warum
soll ein Land, eine Ländergruppe, nicht nach wirtschaftlicher Autarkie
streben, um die Bewegungsfreiheit für ein Sozial- und Friedensprogramm zu
bekommen? Erdöl zu verbrennen mag billiger sein als Solarenergie
einzufangen. Doch wenn das Verteidigen von „Ölinteressen“ in fernen Ländern
einen Weltbrand auslöst, sind die Kosten zu hoch.
Dass jeder Wirtschaftsraum nur das erzeugen soll,
was er am billigsten erzeugen kann, ist zu kurz gedacht, wenn der Preis,
den wir für niedrige Preise zahlen, die Aufgabe der Souveränität der
Gesellschaft über ihr eigenes Schicksal ist.
Für entwickelte Industriestaaten wäre also dieses
Programm aufzustellen: Abkopplung vom Weltmarkt. Streben nach größtmöglicher
wirtschaftlicher Autarkie, um sich von den Sachzwängen der
Standortkonkurrenz zu befreien und eine kontrollierte Marktwirtschaft zu
ermöglichen. Die Konkurrenz der Unternehmen soll bestehen bleiben, doch
in einem vom Konsens der Gesellschaft bestimmten Rahmen. Abschöpfung der
Produktivitätszuwächse durch garantierte Grundversorgung, stetige
Anhebung der Mindesteinkommen, stetige Anhebung der Qualitäts-,
Sozialverträglichkeits- und Umweltverträglichkeitsanforderungen, stetige
Ausweitung des durch Steuern, also gemeinschaftlich finanzierten – aber
deswegen nicht unbedingt staatlich kontrollierten - Sozial- und
Bildungswesens, der Wissenschaft und der Kunst.
Keine der letztgenannten Forderungen ist besonders
originell. Sie werden gewöhnlich mit der Notwendigkeit von mehr sozialer
Gerechtigkeit und der Erhaltung unserer Umwelt begründet. Hier sollte
aufgezeigt werden, dass sie, mit der nötigen Radikalität durchgeführt -
nämlich bis zur Abschöpfung des gesamten Produktivitätszuwachses, auch
der Erhaltung des Friedens dienen würden.
In seinem Buch „The Logic of Collective Action“
(„Die Logik kollektiver Aktion“) behandelt Mancur Olson ein
strukturelles Problem der Kooperation (Olson 1965). Olson weist nach, dass
in einer Gruppe „rational ihr Eigeninteresse verfolgender Individuen“
ab einer bestimmten Größe gemeinsame Interessen auch dann nicht verfolgt
werden, wenn allen Mitgliedern der Gruppe klar ist, dass alle Mitglieder
der Gruppe besser fahren würden, wenn alle ihren Beitrag leisten würden.
Olson spricht von einem kollektiven Gut, das ist ein Gut, an dem alle
Gruppenmitglieder teilhaben, unabhängig davon, ob sie ihren Beitrag
geleistet haben (Z.B.: Wenn auch nur ein Teil der Stadtbewohner von
Braunkohlenheizung auf Erdgas umsteigt, wird die Luft für alle sauberer).
Wenn die Gruppe klein genug ist, dass der Nutzen, den
ein einzelnes Mitglied vom Einsatz für die gemeinsame Sache hat, seinen
Aufwand auch dann noch übertrifft, wenn es als einziges seinen Beitrag
leistet, dann ist anzunehmen, dass alle ihren Beitrag leisten werden.
Wenn die Gruppe so groß ist, dass der Beitrag des
einzelnen Mitglieds keinen merklichen Unterschied macht, so ist
anzunehmen, dass das einzelne Mitglied seinen Beitrag nicht leisten wird.
Denn es kann dadurch weder den Gesamtnutzen noch seinen individuellen
Anteil daran erhöhen, noch auch nur durch gutes Beispiel andere
ermuntern, auch ihren Beitrag zu leisten. Jedes Mitglied wird also
versuchen, als Trittbrettfahrer auf Kosten der Allgemeinheit seinen Nutzen
zu beziehen, und so ist zu erwarten, dass kein Mitglied seinen Beitrag
leisten wird und die gemeinsamen Interessen nicht erreicht werden.
Zwischen den beiden Extremen liegt der Bereich, in
dem der Beitrag oder Nichtbeitrag des einzelnen Mitglieds einen merkbaren
Unterschied macht. Vor allem in dem Fall, dass Kooperation auf irgend eine
Weise bereits hergestellt ist, kann das einzelne Gruppenmitglied davon
ausgehen, dass die Kooperation gefährdet wäre, wenn ein Mitglied seinen
Beitrag nicht leistet. Denn für die anderen würde sich ihr Verhältnis
von Aufwand zu Nutzen merklich verschlechtern, und ihre Versuchung, selbst
Trittbrettfahrer zu werden, würde sich vergrößern.
Die genauen Zahlenverhältnisse hängen natürlich
von der Natur des kollektiven Guts ab, von dem jeweiligen Verhältnis
zwischen Aufwand und Nutzen und von der jeweiligen Schwelle, ab der eine
Änderung des Nutzens von den Gruppenmitgliedern wahrgenommen werden kann.
Leicht einzusehen ist aber, dass in relativ kleinen
Gruppen Kooperation für ein gemeinsames Gut spontan zustande kommen kann,
in mittleren Gruppen prekär ist, und in großen Gruppen ohne zentrale
Lenkung nicht zustande kommen wird.
Dies unter der Voraussetzung, dass die
Gruppenmitglieder nicht anders miteinander kommunizieren als durch das
Leisten oder Nichtleisten ihres Beitrags für die gemeinsame Sache.
Worauf Olson nicht eingeht, sind dezentrale
Abmachungen und gegenseitige Kontrolle von unten. Durch solche Maßnahmen
kann Kooperation auch in größeren Gruppen erreicht werden. Doch
Beratungen und Vereinbarungen kosten Zeit und auch andere Ressourcen,
desgleichen gegenseitige Kontrolle. Es ist klar, dass bei Beratungen
zwischen jedem Mitglied und jedem anderen Mitglied die Beratungskosten
rascher als die Gruppengröße wachsen. (n Mitglieder brauchen 1 + 2 + 3 +
... + n - 1 Gespräche um die Kooperation zu vereinbaren bzw. 1 + 2 + 3 +
... + n – 1 Kontrollbesuche in regelmäßigen Abständen).
Je geringer die Beratungs- und Kontrollkosten, um so
größer kann die Gruppe sein, die zu freiwilliger Kooperation imstande
ist (Informationstechnologien, die Beratung und Kontrolle verbilligen,
kommt hier ebenso eine Rolle zu wie geschickter Organisation, z.B. einem
Delegiertensystem, das ebenfalls die Beratungskosten drastisch verringern
kann).
Doch auch unter Einbeziehung von Beratung und aktiver
Kontrolle können die Grenzen für funktionale Gruppengrößen wohl nach
oben verschoben werden, doch nicht unbegrenzt.
Es ist leicht einzusehen, dass bei einer bestimmten
Gruppengröße es für das einzelne Mitglied zwar nicht mehr rationell
erscheint, allein die ganze Arbeit zu machen. Es kann aber sehr wohl noch
rationell sein, es auf sich zu nehmen, mit den anderen Gruppenmitgliedern
zu reden und sie vom Vorteil gemeinsamen Handelns zu überzeugen. Wird die
Kooperation erreicht, kann der Nutzen auch für die erste Missionarin noch
ihren Aufwand übertreffen. Ab einer gewissen Gruppengröße verschwindet
aber die Chance, dass die Missionarin jemals ihren Aufwand hereinbekommt.
Hier können dann nur mehr irrationale Momente, wie das Gewissen, Nächstenliebe
und dergleichen weiterhelfen.
Olsons Schlussfolgerung ist, dass Kooperation spontan
nur in kleinen Gruppen möglich ist, in großen Gruppen durch zentrale
Lenkung erzwungen werden muss. [12]
Ohne Abmachungen, Verträge oder Gesetze gibt
es also Kooperation zwischen „rational im Eigeninteresse handelnden
Individuen“ nur in sehr kleinen Gruppen. Obwohl wirkliche Menschen der
Abstraktion des „Homo oeconomicus“ nicht voll entsprechen und durchaus
auch eine angeborene Bereitschaft zur Kooperation haben, und durch
irrationale Motive wie Tradition und anerzogene Ideale gelenkt werden,
finden wir die Bestätigung in der wirklichen Welt. Gruppen etwa von der
Größe der Sammler- und Jägerhorde können spontan kooperieren. Durch
Gespräche und Vereinbarungen lässt sich Kooperation für ein gemeinsames
Gut auch für größere Gruppen erzielen, Gruppen von der Größe einer
Dorfgemeinschaft etwa. Doch die Verhandlungskosten wachsen mit der Größe
der Gruppe. Gruppen von der Größe der griechischen Polis konnten sich in
der Volksversammlung gerade noch mündlich verständigen, sie diskutierten
und stimmten in Gruppen ab. Auch germanische Stämme zur Zeit des Tacitus
oder der Irokesenbund waren zu dieser Form der direkten Demokratie
imstande. Doch wird bei dieser Gruppengröße schon eine Zentralgewalt
sichtbar.
Ein jedes zahlt gern den Mitgliedsbeitrag im
Kegelverein. Denn jedes Mitglied eines Kegelvereins weiß ziemlich genau,
was es für seinen Mitgliedsbeitrag bekommt, kann mitbestimmen, wie die
Gelder verausgabt werden und der Versuch, sich zu drücken, würde auch
sofort auffallen und durch Ächtung oder Ausschluss bestraft werden.
Niemand jedoch zahlt gern Steuern. Jeder, der die Möglichkeit
hat, reduziert seine Steuern so weit es geht, ein ganzer Berufsstand lebt
davon, Menschen zu beraten, wie sie ihren Beitrag für die Gemeinschaft möglichst
gering halten können. Warum, ist klar: Das einzelne Mitglied der
Gesellschaft hat keinen Überblick über die Verwendung der Steuern, kann
praktisch nicht darüber mitbestimmen, und niemand bekommt die Folgen
seiner legalen und illegalen Steuerspartricks zu spüren in der Form, dass
etwa die Spitalsleistungen sich wegen dieser einen Beitragsverweigerung in
irgend einer merkbaren Weise verschlechtern würden.
Die Theoretiker des Anarchismus können also einige
Gründe für ihre Forderung in Anspruch nehmen, den Staat abzuschaffen und
alle Entscheidungsgewalt der Gemeinde zu übertragen.
Globale Probleme müssen freilich global gelöst
werden und kontinentale Probleme kontinental. Doch nicht jedes Problem ist
ein globales oder kontinentales.
Aus der Logik der kollektiven Aktion folgt auch, dass
5 Staaten unter sich leichter kooperieren und den Trittbrettfahrereffekt
vermeiden können als 180 Staaten. Dass 10 Gemeinden eher ein gemeinsames
Ziel erreichen können als 10.000. Dass Einrichtungen im
Gemeinschaftsbesitz eines Wohnblocks pfleglicher behandelt werden als
Einrichtungen im anonymen Staatsbesitz.
Vom Standpunkt der Kooperation und der Vermeidung
ungewollter Trittbrettfahrer-Effekte ist es also wünschenswert, möglichst
viel Entscheidungsgewalt (mitsamt den zugehörigen Budgets) auf die möglichst
kleinsten gesellschaftlichen Einheiten zu übertragen: Auf den Trägerverein
des Kulturhauses, den Eltern-Lehrer-Schüler-Ausschuss, auf den Bezirk,
die Gemeinde, das Land.
Das heißt auch, Produktions- und Lebenszusammenhänge
nach Möglichkeit wieder zusammenzuführen. Es macht einen Unterschied, ob
man die Luft dort verschmutzt, wo man wohnt, oder irgendwo anders. Auch in
diesem Sinn ist es wünschenswert, Produktion so weit wie möglich zu
dezentralisieren (Z.B. in der Energieproduktion zeichnen sich solche Möglichkeiten
bereits ab. Dass in die gesellschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung beim
Vergleich Windkraftwerke vs. Atomkraftwerke nicht nur der Preis der
Kilowattstunde eingehen darf, beginnt sich herumzusprechen)
Funktionierende Kooperation erfordert natürlich auch
informierte Teilnehmer. Umfassende Bildung und umfassender
Informationszugang für alle ist entscheidend und muss als wichtiger
angesehen werden als Staats-, Betriebs- und Bankgeheimnisse und
dergleichen.
Mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins
ist die Selbstorganisation des Lebendigen in eine neue Phase getreten: Der
spontane Prozess reflektiert sich im menschlichen Bewusstsein, und die
Menschheit – obwohl immer noch Teil des spontanen Prozesses - greift
aktiv in den Prozess ein – Landwirtschaft, Viehzucht, Handwerk und
Industrie haben den Entwicklungsprozess der Biosphäre in von
Menschenwesen gewünschte Bahnen gelenkt. Die Menschheit schafft selbst
die Umwelt, die die weitere biologische und kulturelle Evolution der
Menschheit bestimmt. So wird das Menschenwesen immer mehr zum Erschaffer
seiner selbst. Mit dem aktiven Eingriff in die Keimbahn wird gerade ein
neuer Schritt der Selbstmodifikation des Selbstorganisationsprozesses
vorbereitet. Gleichzeitig zögern die Menschen, in den Entwicklungsprozess
des ihnen übergeordneten Systems, der Gesellschaft, aktiv und planmäßig
einzugreifen. Tun sie das aber nicht, besteht einerseits die Gefahr von
positiven Rückkopplungen, die zur Selbstzerstörung der Menschheit führen
können, andererseits die Gefahr, dass Menschen immer mehr zu hilflosen Rädchen
und Schräubchen des Superorganismus Wirtschaft degradiert werden, nicht
eigenständiger als Leberzellen oder Blutkörperchen in einem Organismus,
auf dessen Handlungen sie keinen Einfluss haben. Eine Menschheit, deren
Glieder miteinander wetteifern, einander immer noch mehr von
Industrierobotern hergestellte Dinge zu verkaufen, läuft Gefahr, sich
selbst zu zerstören. Eine Menschheit, deren Glieder miteinander
wetteifern einander zu pflegen, zu heilen, zu unterhalten und zu belehren,
hat Aussicht auf Fortbestand.
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